Rezension: Arnon Grünberg – Der jüdische Messias (Diogenes 2014 [2004])

Neun Jahre lang wartete der Diogenes-Verlag mit einer Übersetzung von Arnon Grünbergs aberwitziger, jedes Tabu missachtenden Groteske “Der jüdische Messias”. 2013 letztlich erschien der Text auf Deutsch, seit diesem Jahr liegt er auch als Taschenbuch vor. Die Geschichte von Xavier Radek, dem selbsternannten “Tröster der Juden”, ist ein Panoptikum der Absurditäten und der menschlichen Grausamkeiten. 

978-3-257-06854-2

Zu Beginn des Buches ist Xavier Radek ein knapp sechzehnjähriger Basler Junge, der heimlich in den Erbschaften seines Grossvaters stöbert. Dieser war KZ-Aufseher, ein Nazi aus Überzeugung, der bis zu seinem letzten Atemzug die Ideologie verteidigt und Juden ermordet hat. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Hitlers Schrift “Mein Kampf” zu seinen Habseligkeiten gehörte. Xavier, der sich selbst als “unter einem glücklichen Stern” geboren sieht und das Leiden nicht kennt, liest darin und erfährt vom Unglück der Juden, die “Feinde des Glücks” genannt werden. Er fasst einen fatalen Beschluss: “Er würde die Juden trösten.”

Um diesen Plan in die Tat umzusetzen muss er zunächst selbst Jude werden. Der missionarische Eifer, mit dem sein Grossvater einer Bewegung gedient hat, ist dabei sein Vorbild. Er schliesst sich zionistischen Organisationen an und nähert sich dem orthodoxen Juden Awrommele an. Dieser ist Sohn eines falschen Rabbiners, glaubt nicht an die jüdischen Rituale, führt sie aber trotzdem aus, weil er die Leere ohne sie fürchtet. Zwischen ihm und Xavier beginnt eine intensive homoerotische Freundschaft, gebunden an einen Pakt, der sie verpflichtet nichts zu fühlen.

Awrommele hilft Xavier, Jude zu werden. Er bringt ihn zu einem halbblinden pensionierten Mohel, der nur noch mit Käse handelt. Der soll ihn illegal beschneiden, der Eingriff geht jedoch schief und Xavier verliert einen Hoden, den er fortan in einem Glas aufbewahrt und “König David” nennt. Die Figur Xaviers entwickelt hier erste Parallelen zu Adolf Hitler, welche sich im Verlauf der Geschichte häufen, etwa in Xaviers Versuch Kunstmaler zu werden oder in der apokalyptischen Endszene, in der Xavier in einem Bunker seine Schäferhunde erschiesst.

Schon in Basel fassen Awrommele und Xavier den Plan, “Mein Kampf”, den sie als den “Grossen Jiddischen Roman” betrachten, ins Jiddische zu übersetzen. Es findet sich ein Verleger, der das “tabulose Zeitalter” verkündet, die beiden jungen Männer stürzen sich in die Arbeit, die sie bis zum Schluss zusammenhält. Nachdem ihnen Basel zu eng geworden ist, reist das ungleiche Paar nach Amsterdam, wo Xavier eine kurze aussichtslose Zeit an der Kunstakademie verbringt und Awrommele, weil er “nicht nein sagen kann” mit etlichen anderen Männern schläft. Nachdem Xavier ein Verbrechen begangen hat, flüchten sie nach Israel, wo Xavier schliesslich eine Karriere als Politiker startet. Er hat gelernt: “Erst kommt die Macht, dann kommt der Trost.” Er fühlt sich zu Höherem berufen und bahnt sich rücksichtslos seinen Weg. Zuletzt ist er israelischer Ministerpräsident und droht der westlichen Welt mit dem nuklearen Krieg.

Neben diesem Haupterzählstrang baut Grünberg etliche Nebengeschichten in seinen Text ein, die Xaviers und Awrommeles Abenteuern an Absurdität in nichts nachstehen. So lässt sich etwa auch die Geschichte von Xaviers Mutter verfolgen, die die rassischen Ansichten ihres Vaters geerbt hat. Nach dem Tod ihres Mannes, Xaviers Vater, lebt sie mit einem schwulen Freund zusammen, betrachtet aber ein Brotmesser, mit dem sie sich regelmässig verletzt, als ihren wahren Liebhaber. Es gibt eine Gruppe marodierender Jugendlicher – sie gemahnen an die Bande aus A Clockwork Orange – , die im Namen Kierkegaards Leute bewusstlos prügeln und Mädchen missbrauchen. Es gibt einen ägyptischen Imbissbesitzers, der mit seinen Hunden den Mond anheult und jungen Frauen die Ohren abschleckt. Und so weiter, und so fort.

Oftmals ist “Der jüdische Messias” nur aufgrund der offensichtlichen grotesken Züge, der ironischen Distanz mit der Gewalt, Sex und Bigotterie beschrieben werden, überhaupt erträglich. Grünbergs lakonische Sprache, die nie anklagend, stets nur beobachtend ist, verstärkt die Wirkung der menschlichen Grausamkeiten, die er ohne Beschönigungen beschreibt. In vielerlei Hinsicht lässt sich “Der jüdische Messias” auch als Prätext zum 2014 erschienenen “Der Mann, der nie krank war” lesen. Während dieser Roman aber fokussiert und knapp gehalten ist, ist “Der jüdische Messias” mit seinen gut 640 Seiten ziemlich ausufernd. Diese Länge hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Während die Erlebnisse in Amsterdam und Israel auf wenig mehr als 200 Seiten auf den Punkt gebracht und in rasantem Tempo vorgetragen werden, sind der kurzen Basler Zeit mehr als 400 Seiten gewidmet. Es kommt in diesen Passagen zu einigen unnötigen Längen. Wenn etwa seitenlang beschrieben wird, welche Nachwirkungen die missglückte Beschneidung zeitigte, so ist das nicht nur ekelerregend, sondern könnte auch als reine Effekthascherei ausgelegt werden. Es trüben solche Stellen etwas den Eindruck dieses insgesamt zweifellos meisterlich durchdachten Romans, der schonungslos alle Scheinheiligkeiten und Halbwahrheiten unserer Gesellschaft offenlegt und vor keinem Tabu zurückscheut. Der Text ist voller Leute, die über Traumata aus Vergangenheit und Gegenwart “vornehm hinwegsehen”. Anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen, flüchten sie sich in Gewalt und verrennen sich in unterschiedlichen sexuellen Identitätssuchen, die meist brutal enden.

Arnon Grünberg  ist ein Autor, der das sagt, was andere auslassen. Er benennt die Dinge, um die andere vage herumschreiben. Er legt den Finger in die Wunden unserer Gesellschaft und bohrt darin herum. Grünberg ist der grosse Provokateur des erstickten Lachens.  Das ist lesetechnisch eine Grenzerfahrung und sicherlich nicht jedermanns Sache, als scharfsinniges Zeugnis menschlicher Fehler und Lügen aber unverzichtbar.

Ein aufschlussreiches Interview mit dem Autor (2013):

Grünberg, Arnon. Der jüdische Messias. Roman. Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Zürich: Diogenes 2014. 640 Seiten, Taschenbuch. 978-3-257-06854-2


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