Rezension: Anna-Katharina Hahn – Das Kleid meiner Mutter (Suhrkamp, 2016)

Magischer Realismus? Schwarze Romantik? Künstlerroman? Generationenportrait aus der Zeit der Eurokrise? Die deutsche Autorin Anna-Katharina Hahn, die gemäss Homepage ihres Verlags als “eine der wichtigsten Erzählerinnen ihrer Generation” gelten soll, versucht sich in ihrem neuen Roman “Das Kleid meiner Mutter” an abenteuerlichen Genrekapriolen, leuchtet dabei stellenweise strahlend – scheitert zuletzt aber grandios.
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Zu Beginn begegnen wir Anita, einer jungen Spanierin, arbeitslos wie so viele aus ihrer Generation. Gemeinsam mit ihrer Freundesclique, die sich “La Plaga” nennt, hängt sie in den Parks von Madrid, trinkt, demonstriert gegen die unsäglichen Zustände in Spanien. Ihr Bruder Angel, ein Germanist, ist dem spanischen Unheil nach Deutschland entflohen, wo er jedoch nicht als Dozent, sondern auf einer Baustelle sein Geld verdient und es nach Hause schickt. Weil sie kein Geld mehr hat, lebt Anita bei den Eltern Oscar und Blanca. Eines Tages kehren die Eltern krank von einem Ausflug zurück, legen sich ins Bett und sterben. Und nun?

Zufällig bemerkt Anita, dass sie lediglich in das titelgebende Kleid ihrer Mutter zu schlüpfen braucht, um selbst von alten Bekannten für Blanca gehalten zu werden. Sie verschweigt den Tod der Eltern vorerst selbst den Freunden und dem Bruder und stürzt sich, kostümiert, in das Leben ihrer Mutter, über die sie weniger gewusst zu haben scheint, als sie dachte. Spätestens, als sich auf Blancas Handy ein mysteriöser Liebhaber namens “R.” meldet, verstrickt sich Anita hoffnungslos im Netz der dunklen Geheimnisse ihrer Eltern.

Alle Fäden scheinen in einem obskuren deutschen Schriftsteller zusammenzulaufen, der unter dem Namen Gert de Ruit grossen literarischen Ruhm geniesst – ohne dabei je in der Öffentlichkeit aufzutreten. Es existiert lediglich eine einzige alte Fotografie des Autors. Es beginnt die Entwirrung eines Rätsels – wobei die Autorin es unterlässt, ihre Erzählerin auf eine detektivische Spurensuche zu schicken: alle relevanten Hinweisen kommen ihr schliesslich in einem dicken braunen Umschlag mit Aufzeichnungen verschiedener Personen wie zugeflogen.

“Das Kleid meiner Mutter” beginnt als durchaus packender Generationenroman über die perspektivlose Jugend Spaniens im Nachklang der Eurokrise, als detailhaltiges Portrait der Ängste, Sorgen und Hoffnungen einer Gruppe junger Menschen. Mit dem Erzählstrang um den unsichtbaren Schriftsteller De Ruit, der im Übrigen nicht lange unsichtbar bleibt, sondern bald schon auftaucht und nicht einmal halb so geheimnisvoll ist, wie vermutet, entwickelt Hahn eine neue Dimension. Bald schon kommen weitere dazu: es taucht die spanische Übersetzerin De Ruits auf, es taucht der Verleger auf, es tauchen De Ruits Eltern auf und die Geschichte seiner Kindheit in der Nazizeit wird zum Thema.

Es bedürfte einer unglaublichen erzählerischen Finesse, um all diese Erzählstränge (auf lediglich dreihundert Seiten!) geschickt auszubalancieren und zu einem zufriedenstellenden Ende zu bringen. Während die Balance bisweilen noch klappt, muss die Auflösung als vollkommen unbefriedigend bezeichnet werden. Man spürt förmlich, wie zerfahren das Ganze plötzlich geworden ist, wie unübersichtlich, ja unauflösbar. Alles gipfelt in einer kitschig-sentimentalen Schlussszene, in der der Versuch unternommen wird, die gesamte Geschichte aus der Ebene des Realistisch-Bedrohlichen auf die Ebene des Metaphorisch-Übertragenen zu hieven. Das in der Szene aufgerufene Bild soll aussagen: die Vergangenheit ist nun abgeschlossen, die Zukunft kann beginnen – die offenen Fragen des Lesers aber sind zahllos, etliche Figuren verschwinden wortlos, so dass am Ende wieder nur Anita und ihre Clique zu existieren scheinen…

Der berühmt-berüchtigte Kritiker Denis Scheck meint, das Buch entfalte “ein großes europäisches Tableau, ein romantisches Welttheater”. Das ist nicht nur unsäglich pathetisch, sondern auch rein topographisch allzu weit gefasst: “Das Kleid meiner Mutter” spielt zum grössten Teil im Spanien der Gegenwart und im nationalsozialistisch regierten Deutschland. Es hat Ansätze eines aufregenden und relevanten sozialkritischen Romans (vielleicht im Stile eines Rafael Chirbes), es hat Ansätze zu einem hochspannenden Versteckspiel mit einem dunklen und gefährlichen Unsichtbaren, es hat auch Ansätze zu einer grotesken Farce über den Literaturbetrieb. Letztlich aber wirken all diese Ansätze etwas beliebig zusammengewürfelt. Auch wenn verschiedene Passagen faszinierende Gedankenspiele in einer unfasslichen Zwischenwelt von Realität und Fiktion erlauben, bleibt ein schaler Beigeschmack. Momenten der Magie folgt der Frust eines unfertigen Werks.

Hahn, Anna-Katharina. Das Kleid meiner Mutter. Suhrkamp 2016. 311 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-518-42516-9


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