Im Herzen von Paris, zwischen dem Einkaufszentrum Les Halles und dem Centre Pompidou, auf einer romantischen Piazza steht ein majestätischer Brunnen: der Fontaine des Innocents. Dass dieser ursprünglich in vollkommen anderem Kontext entstand, ist wohl nicht allen bekannt. Der britische Autor Andrew Miller erzählt in “Friedhof der Unschuldigen”, einer geschickten Mischung aus Fiktion und historischer Realität, von den makabren Ereignissen, die sich hier Ende des 18. Jahrhunderts zugetragen haben…
Der Friedhof Les Innocents, 16. Jh., Quelle: http://www.landrucimetieres.fr/
Ursprünglich war der Brunnen lediglich ein kleiner Teil des grössten Pariser Friedhofs, der Cimetière des Innocents. Der Ort war seit dem Mittelalter der wichtigste Bestattungsort von Paris, neben herkömmlichen Gräbern kam es mit wachsender Menschenzahl auch zu Massenbegräbnissen. Seuchenopfer, Ertrunkene, Namenlose wurden in riesige Gruben geworfen, die zwischen 1200 und 1500 Tote bargen. Bald war die Kapazität des viel zu kleinen Geländes überschritten, was die Behörden aber nicht daran hinderte, weiterhin Tote zu vergraben. Die umliegenden Strassen und Gassen, Zimmer und Keller, der Markt von Les Halles wurden vom ständigen unausstehlichen Verwesungsgestank überflutet, die Leichen sollen buchstäblich aus den überfüllten Gräbern geschwappt sein, bisweilen seien Kellerwände der dicht angrenzenden umliegenden Häuser eingestürzt und tote Körper in die Untergeschosse der Wohngebäude gefallen sein.
Les Innocents mit Kirche, Predigerkreuz und angrenzenden Wohnhäusern, 1785, Quelle: http://grande-boucherie.chez-alice.fr/Innocents.htm
Er bezieht ein Zimmer bei der Familie Monnard, die in einem Haus wohnt, das direkt an den Friedhof grenzt. Zunächst noch in geheimer Mission, als Ingenieur, der angeblich das Land des Friedhofs vermessen soll, steckt er die Lage ab: In der Friedhofskirche begegnet er dem aufgeschlossenen Organisten Armand, der nur für sich, den Pfarrer und Gott spielt, da längst niemand mehr in die geschlossene Kirche kommt. Armand wird zu einer Art Freund, er will Jean-Baptiste beibringen, wie man in Paris modern zu sein hat.
Auf dem Friedhof leben auch die junge Jeanne und ihr Grossvater, der Küster; in der Kirche versteckt sich der blinde Pfarrer Colbert, der sein Refugium nicht nur mit dem Wort Gottes zu verteidigen gedenkt; im Haus der Monnards erwecken die merkwürdige Tochter Ziguette und das Dienstmädchen Marie, das den Ingenieur durch ein Astloch im Boden ihrer Dachkammer beobachtet, Barattes Aufmerksamkeit; auf der Strasse schliesslich verguckt sich der Ingenieur in die auffällige Héloïse, von der das ganze Viertel zu wissen glaubt, sie sei eine Prostituierte.
In diesem Klima, unwissend, wer genau auf seiner Seite steht und wer allenfalls etwas gegen die Zerstörung von Les Innocents einzuwenden hat, macht sich der Ingenieur an seine unvermeidliche Arbeit. Aus einem Bergwerk bei Valenciennes, in dem er früher selbst Aufseher war, holt er den alten Freund Lecoeur und einige Dutzend Bergarbeiter, um die Gruben mit den Toten auszuheben. Er will nicht daran denken, dass “Gebeine Besitzer, Namen haben”, versucht die Anonymität zu wahren, was schwerfällt, wenn man Tag für Tag vom pestilenzialisch stinkenden Leichenbergen umgeben ist. Baratte versucht, sich selbst und seine Arbeiter, die ebenso unter den Zuständen leiden, unter Kontrolle zu halten und die Arbeit zügig voranzubringen. Und dann wird er plötzlich Opfer eines Mordversuchs…
Der britische Autor Andrew Miller (*1961) – ein Spezialist für historische Themen, der mit “Die Gabe des Schmerzes” einen nennswerten Erfolg verzeichnen konnte – erschafft in “Friedhof der Unschuldigen” ein faszinierendes Panorama der düsteren Seiten von Paris am Vorabend der Revolution. Die gestärkte Front der Liberalen mit ihren Ideen von Rousseau und Voltaire, ihren Salons, ihrer Freigeistigkeit und Agitation ist im Organisten Armant ausgezeichnet personifiziert. Zudem ist die erzählte Begebenheit selbst – also die Zerstörung des Friedhofs – ein aussagekräftiger Inbegriff der Modernisierung: Die Verbannung des Todes aus dem Zentrum der Stadt und somit dem Alltag der Leute steht in direktem Zusammenhang mit neuen Vorstellungen von Gesundheit und Hygiene, die Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung gewannen. An die Stelle von Les Innocents traten bald die heute prominenten Friedhöfe Montmartre, Montparnasse und Père Lachaise, die ausserhalb der damaligen Stadtgrenzen lagen. (Der englische Originaltitel des Romans lautet nicht von ungefähr: “Pure”.)
Ambivalente Figuren, denen man bisweilen nicht zu trauen wagt und deren Absichten wechselhaft zu sein scheinen, sorgen für stetige Spannung. Die Konflikte, in die Baratte alleine aufgrund seiner Aufgabe, vielleicht aber auch aufgrund seines Verhaltens gerät, bergen eine gehörige Menge Zündstoff. Dass der Autor sich die Freiheit nimmt, manche Geheimnisse und Andeutung unaufgelöst zu lassen, ist erfrischend.
Schade ist einzig dies: Bei der Unmenge an Mythen, Legenden und Schauergeschichten, die sich selbstverständlich um einen Ort wie Les Innocents ranken, hätte seitens des Autors die Möglichkeit bestanden, zu einem überbordenden barocken Paukenschlag auszuholen, worauf Miller jedoch verzichtet. Der Autor gab zu Protokoll, gerade das Theatralische an der tatsächlichen historischen Begebenheit fasziniere ihn (Interview 2012) – obschon die Sprache keinesfalls ernüchternd ist, hätte ein wenig mehr davon dem Roman vielleicht nicht geschadet. Dies soll aber keinesfalls die Tatsache leugnen, dass “Friedhof der Unschuldigen” ein ausgezeichneter historischer Roman ist, der harte Fakten und die Gedankenwelten der damaligen Gesellschaft souverän mit einfühlsam erzählten persönlichen Geschichten zu verbinden weiss.
Miller, Andrew. Friedhof der Unschuldigen. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. München: dtv 2015. Taschenbuch, 384 S. 978-3-423-14397-4
Weiterführend: Eine historische Beschreibung von Les Innocents und seiner Räumung findet sich in der hervorragenden Studie “The Hour of Death” von Philippe Aries. Autor Andrew Miller hat diese Studie auch als Einfluss auf die Arbeit am Roman im oben bereits verlinkten Interview erwähnt.