Lieber Ed, noch eine Sekunde, dann hörst du ein lautes Rums.
Ed Slaterton ist der Co-Kapitän der Basketballmannschaft und Mädchenschwarm der Schule, Min Green ist anders, eher der "künstlich angehauchte Typ". Auf einer Party kommen sich die beiden näher und verlieben sich ineinander. Die Beziehung zwischen dem ungleichen Paar steht jedoch unter keinem guten Stern, denn so verschieden wie die beiden sind, kann das doch gar nicht gut sein. Schließlich war Min nicht als Basketballwitwe enden und Ed mag all die "schwulen" Filme nicht, die Min so liebt. Als es dann aus ist, schreibt Min Ed einen langen Brief und gibt ihm all die Dinge zurück, die sie an ihn erinnern, denn es gibt mehr als ein Geheimnis, das zwischen den beiden steht.
Ein Roman im "Du"-Format ist sicherlich nicht jedermanns Sache - meine eigentlich auch nicht, aber Daniel Handlers Schreibstil ist derart eindringlich und "künstlich angehaucht", dass man sich nur in seinen Worten verlieren kann. Handlers schreibt zugegebenermaßen zwischenzeitlich ein wenig zu ausschweifend, aber seine verrückte Art und die Sichtweise, die er Min zugeschrieben hat, ist eine ganz besonders einfühlsame Mischung, in der man sich nur allzu oft wiedererkennen kann. Mit langen Sätze und vielen Details zieht sich die Geschichte an manchen Stellen etwas, doch insgesamt besteht Handlers Stil aus vielen Bildern, doppelten Böden und einer unglaublichen sprachlichen Tiefe, die man nur in wenigen Büchern finden kann.
Die meisten Jugendbücher erzählen von der Liebe, philosophieren von ihrer Schönheit, der Sanftheit der ersten Gefühle und schlängeln sich dann bis hin zum ersten Kontakt, dem ersten Treffen und der Annäherung. In Daniel Handlers "43 Gründe(n), warum es AUS ist" nicht, denn in diesem besonderen Buch über das Erwachsenwerden und das Loslassen wird Schluss gemacht mit den ewigen Klischees - und das im wahrsten Sinne des Wortes. Handler traut sich, was viele Autoren gerne nur in den zweiten Teil einer Trilogie einbauen, um die Spannungskurve aufrecht zu erhalten: Er schreibt über Trennung. Eine endgültige Trennung, die nicht im nächsten Band wieder aufgelöst wird und schafft es damit eine Geschichte fernab vom Mainstream zu schreiben, die einfühlsam die Geschichte und die Entwicklung eines Mädchens erzählt, das Filme liebt. Filme und Ed Slaterton. Und das sind nur einige der vielen Gründe, warum dieses Buch so besonders ist.
Zugegeben: Ich hatte Bedenken was diese Geschichte angeht. Ein Brief in Form eines Buchs, in dem ein Mädchen sich von ihrem Freund trennt und ihm all die Dinger wiedergibt, die sie mit ihm verbindet ist zwar durchaus eine ziemlich originelle Idee, erfindet das Rad aber nicht hundertprozentig neu. Was mir wirklich Sorgen machte, war die Tatsache, dass eine Geschichte, bei der man von vorneherein weiß, wie es ausgeht, doch ziemlich vorhersehbar und distanziert sein muss. Schließlich müsste man die ganze Zeit Angst haben, die Figuren und ihre Beziehung zu mögen, wenn sie am Ende doch ohnehin nicht mehr existiert. Wer also ähnliche Gedanken hat: Ich kann euch beruhigen (zumindest in einer Hinsicht)! Eine gewisse Distanz verspürt man nur auf den ersten Seiten, spätestens nach dem ersten Date wird man Min und Ed lieben - was allerdings dafür sorgt, dass die letzten Seiten des Buches unter Umständen ganz schön hart werden könnte, denn auch, wenn man weiß wie es ausgeht, ist man schlussendlich doch frustriert.
Nach einigen Startschwierigkeiten und im Rückblick muss ich sagen, dass mir die Geschichte um Ed und Min ziemlich gut gefallen hat. Ja, zwischendrin gibt es Stellen, die mich nicht unbedingt interessiert haben, aber im Gesamtbild habe ich noch nie einen solchen Roman gelesen, der Gefühle so gut und andersartig an den Leser bringen kann und es schafft Gefühle, Liebe, Freundschaft und Trennung derart liebevoll und unkitschig zu beschreiben. Hinzu kommen die ungewöhnlichen Figuren, die doch auf den ersten Blick eigentlich wie die typische Konstellation wirken: beliebter Schulsportstar verliebt sich in graue Maus und alle sind gegen die Beziehung. Auch in diesem Fall lässt sich die Geschichte ebenso beschreiben, aber auf der anderen Seite irgendwie auch nicht. Denn "43 Gründe, warum es AUS ist" ist einfach mehr als das. Es ist lebhaft, bunt und verträumt. Es beschreibt Gedanken und Gefühle, die man im Laufe einer Beziehung selbst oft hatte und zeigt, wie man sich in einem Menschen irren kann.
Min (eigentlich Minerva und niemals Minnie!) ist eine sympathische, wenn auch zeitweise etwas nervige Protagonistin. In der ersten Hälfte des Buchs wirkt sie sehr (gewollt) anders und rätselhaft auf den Leser und diese verrückte Art kann manchmal ganz schön aufdringlich sein. Dennoch mochte ich sie, mochte ihre Leidenschaft für Filme und ihre Begeisterung und vor allen Dingen die Entwicklung, die sie im Laufe des Buches durchlebt. Auch Ed war mir eine Weile sympathisch, denn irgendwie muss man ihn gerne haben, nach und nach schimmert jedoch immer mehr seine wahre Gestalt durch und die wurde mir immer verhasster. Was mir zeitweise ein wenig fehlte, waren mehr Hintergrundinformationen zu den Figuren - Wie ist ihr Leben zu Hause? Welche Verhältnisse haben sie zu ihren Eltern? Ich hatte das Gefühl, dass da so einiges am köcheln war und hätte gern mehr über die verschiedenen Situationen erfahren, die womöglich das Verhalten der Charaktere noch besser erklärt hätte.
Besonders anzumerken ist natürlich die wunderschöne Gestaltung des Buchs. So qualitativ hochwertig und schwer (also wirklich das Gewicht) war bisher keins meiner Bücher. Vor allen Dingen aber die innere Gestaltung überzeugt, denn Illustratorin Maira Kalman hat dem Buch mit ihren wunderschönen Bildern noch einmal zusätzlich Leben eingehaucht und die verschiedenen Gegenstände aufgezeigt, die Min Ed zurückgibt. Das ist nicht nur was für das leserische Auge, sondern hat der Geschichte mehr Glaubwürdigkeit und Plastizität verliehen. Man hatte das Gefühl, als würde man selbst in einer Kiste voller Erinnerungen wühlen und eine nach der anderen zutage bringen, um nach und nach Ed und Mins Geschichte zu erfahren, die mir sehr gut gefallen hat und endlich mal etwas anderes im ewigen Liebesgeplänkel aktueller Jugendbücher ist.
Für 43 Gründe, warum man dieses Buch lesen sollte, fehlt mir der Platz, aber einige kann ich euch auf jeden Fall nenen, denn die Geschichte um Min und Ed ist etwas ganz besonderes. Nicht allein die Tatsache, dass man während des Lesens von wunderschönen Bildern begleitet wird, auch die Eigenständigkeit und Andersartigkeit der Geschichte machen einen großen Teil der Besonderheit des Buches aus. Handler macht Schluss mit Klischees, Ed und Min machen Schluss - die Thematik und Umsetzung des Buches ist einfach unglaublich gut gelungen, intelligent geschrieben, unkitschig und gleichzeitig so einfühlsam erzählt Handler eine Geschichte über das Erwachsenwerden und die erste Liebe und traut sich auch an den Teil einer Beziehung, der nur in wenigen Büchern thematisiert wird. Über kleinere Fehler und Makel kann man da schnell hinweglesen, denn insgesamt berührt die Geschichte und das Wühlen in Mins Erinnerungskiste macht nicht nur Spaß, sondern regt selbst zum Nachdenken an. In dem Sinne: Macht ruhig Schluss, aber nicht mit diesem Buch!
Daniel Handler, 1970 in San Francisco geboren, ist ein erfolgreicher US-Schriftsteller und Drehbuchautor mit deutschen Wurzeln. Darüber hinaus ist er Musiker und war u. a. Mitglied der New Yorker Band Magnetic Fields. Unter dem Pseudonym Lemony Snicket veröffentlichte Handler 1999 A Series of Unfortunate Events (dt.: Eine Reihe betrüblicher Ereignisse), eine 13-bändige Kinderbuchreihe über drei Waisenkinder, die von ihren Verwandten um ihre Erbschaft gebracht werden sollen. Die Serie verkaufte sich weltweit 65 Millionen Mal und wurde mit Jim Carrey, Jude Law und Meryl Streep als Darsteller verfilmt. [via Hanser]
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