Revolutionäre Heimat – Teil 8

Revolutionäre Heimat - Teil 8

Mein Aufenthalt in Ägypten neigt sich langsam dem Ende zu: Die letzten Besorgungen werden gemacht, die letzten Familienbesuche stehen an, die letzten Eindrücke prasseln auf mich ein. Obwohl meine Zeit in Ägypten ziemlich chaotisch war und ich in vielerlei Hinsicht enttäuscht wurde (saubere Straßen, weniger Anmache, geregelter Verkehr, weniger Korruption), fällt mir das Verlassen meiner postrevolutionären Heimat wahnsinnig schwer. Ich habe das Gefühl, ein kleines, tollpatschiges Baby im Stich zu lassen, das noch in den Pampers liegt und am Daumen lutscht. Ich habe das Gefühl, genau diesem Baby nicht beim Heranwachsen zusehen zu können. Und man weiß ja, wie schnell Kinder groß werden. Dabei ist meine Zukunftsprognose für Ägypten genauso unklar, wie die Zukunft Ägyptens selbst. Einerseits bin ich optimistisch, da die Ägypter ihr größtes Problem bereits gelöst haben: die Überwindung ihrer Angst. Sie haben es geschafft nach all den Jahren, in denen sie es für normal hielten, nur unter vorgehaltener Hand über Politik zu tuscheln, endlich ihre Stimme zu erheben. Das gibt mir Hoffnung, denn so schnell werden die Ägypter sich nicht mehr hinters Licht führen lassen. Andererseits zeigen die Geschehnisse der letzten Tagen, wie angespannt und explosiv die Stimmung in Ägypten ist. Es ist schwer, eine eindeutige Einschätzung der Geschehnisse zu geben, aber oft ist es nicht so wie es auf den ersten Blick scheint. So darf man nicht vergessen, dass das Innenministerium an dem Anschlag auf die koptische Kirche in Alexandria Anfang dieses Jahres beteiligt war. Man sollte sich also nicht wundern, wenn sich die Übergangsregierung  „alten Mitteln“ bediene. So gibt es viele Aussagen der christlichen Kopten, die belegen, dass sich Schlägertrupps in ihre friedliche Demonstration gemischt haben, um das Militär zu provozieren. Und wer die Schlägertrupps bezahlt, sollte ja nach deren berühmten Angriffen mit Kamelen & Co. auf dem Tahrir-Platz allseits bekannt sein. Der Ursprung dieser „Baltageya“ (=Bande, Aufständische)  liegt vor allem in den Kairoer Slums. In Ägypten beträgt die Analphabetenrate etwa 50 %. Der Alltag dieser Menschen dreht sich nicht um Facebook und die neuesten Informationen über die anstehenden Wahlen, sondern vielmehr darum, was täglich auf den Tisch kommt.  Sie würden praktisch alles für Geld tun.  Genau diese Menschen lassen sich leicht mobilisieren und gegen andere Gruppen aufhetzen, kaum dass man ihnen ein Stück Fleisch vor Augen hält. Hier ist es wichtig, diese nicht zu unterschätzende Bevölkerungsgruppe politisch aufzuklären. Was mir ebenfalls Sorge bereitet, ist die Tatsache, dass die jungen Revolutionäre, die ja letztendlich die Revolution ins Rollen gebracht haben, noch nicht in dem Maße organisiert sind wie die anderen Parteien. Letztendlich hat vor allem die Jugend Ägyptens die Möglichkeit, langfristige Verbesserungen anzustoßen. ..

Letztens schlenderte ich am Nil entlang, da fiel mir ein großer Bus auf, neben dem Jugendliche einen Stand aufgebaut hatten. Neugierig las ich die Aufschrift auf dem Bus: „Ottobus el horeya“ – „Der Bus der Freiheit“. Hörte sich super postrevolutionär an, also fragte ich die Jugendlichen, was es denn damit auf sich hat. Ein schlaksiger Junge mit schwarzer Nickelbrille freute sich über mein Interesse, legte sofort los und gestikulierte dabei wild mit den Händen:  „Wir klären auf! Wir fahren durchs Land, in die Dörfer, in die Städte und erklären den Leuten die neuesten politischen Phänomene in diesem Land und wie sie selbst „darauf reagieren können. Wir haben in diesem Land keinerlei politische Tradition, auf einmal sprechen alle von „liberal“ und „links“ und keiner weiß so recht, was das eigentlich bedeutet.“  – Er hält kurz inne. „Noch weniger weiß man, wo man sich selbst platzieren soll. Sich eine eigene Meinung zu bilden und selbständig zu entscheiden, ist für die meisten Ägypter etwas komplett Neues!“ – „Und wie ist die Reaktion der Leute bis jetzt?“ – „Unterschiedlich. Wenn wir ihnen erklären, dass wir politische Aufklärung betreiben, lachen manche und gehen einfach weiter, während andere stehen bleiben und jede Information aufsaugen, die sie kriegen können. Doch im Großen und Ganzen positiv, die Leute wollen endlich langfristige Veränderungen!“  Begeistert lobte ich ihr Engagement und versprach ihnen davon zu berichten, damit auch andere davon erfahren und dieses Projekt unterstützen.

Zum Schluss meiner Postrevolutionären Reihe, wäre ein „knackiges“ Fazit vielleicht ganz angebracht:

Was ich nach meinem Aufenthalt hier in Ägypten mit Sicherheit gelernt habe, ist eins: „Sabr!“, was schlicht und einfach „Geduld haben“ bedeutet. Jede positive Entwicklung braucht seine Zeit. Solange es junge, engagierte Leute in diesem Land gibt, die versuchen, politisch aufzuklären, habe ich Hoffnung. Solange der Geist der Revolution nicht in Vergessenheit gerät, habe ich Hoffnung. Solange die Entschlossenheit, Hartnäckigkeit und vor allem Einheit des Tahrir-Platzes nicht in Vergessenheit gerät, habe ich Hoffnung. Ich hoffe, dass die Ägypter bis zum 28. November wissen, wem sie ihre Stimme geben. Ich hoffe, dass die ägyptische Jugend vertreten sein wird und ich hoffe, dass die ägyptische Jugendbewegung weiterhin aktiv bleibt – egal welche Regierung letztendlich gewählt wird. Und vor allem hoffe ich, dass die neue ägyptische Verfassung Demokratie, Gleichheit und Menschenrechte schützt und garantiert und Korruption, Geldwäscherei, Missbrauch und Eigeninteressen ein für alle Mal der Vergangenheit angehören. Ich hoffe, dass der Versuch Zwietracht zwischen den Religionen zu säen durch Brüderlichkeit unmöglich gemacht wird.

Ich werde im Dezember nochmal nach Ägypten fliegen und wer weiß, vielleicht hat sich bis dahin etwas verändert? Ich hoffe es. Denn Hoffnung stirbt zuletzt.


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