Nach kalorienreichen Festtagen, die Familienfresslagen und anschließende Streitigkeiten mit sich brachten, ging es nach Alexandria. Im Volksmund wird Alexandria auch „Arosat el bahr“ – also „Meerjungfrau“ Ägyptens genannt und das nicht ohne Grund: Alexandria ist eine wunderschöne Stadt am Meer – sauber, weltoffen und pulsierend. Um möglichst viel von der beeindruckenden Landschaft, den dichten Palmenhainen und dem saftig grünen Nildelta zu sehen, beschlossen wir mit dem Zug zu fahren. Pünktlich eine halbe Stunde vorher stand ich in der meist kürzeren aber umso aggressiveren Schlange für Frauen, um die Karten zu kaufen. Von einer Schlange, wie wir sie in Deutschland kennen, kann hier nicht die Rede sein. Hier gleicht sie einem unkoordinierten Ameisenhaufen, in dem jede Frau den Ameisenkönigin-Posten für sich beansprucht, was heißt, dass allein sie das unangefochtene Recht hat, als erste bedient zu werden. Ich stellte mich brav hinten an und merkte spätestens als mich die fünfte Frau mit einem überheblichen Grinsen überholte, dass ich damit nicht weitkommen würde. Ich fuhr also meine ägyptischen Ellbogen aus, presste mich an der beleibten Frau vor mir hindurch, schlüpfte unter die ausgestreckten Armen der nächsten beiden und befand mich schließlich mit drei anderen Frauen in der ersten Reihe. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und klopfte mir innerlich selbst auf die Schulter wie damals, als ich im Alter von acht Jahren zum ersten Mal einen Döner ganz allein aufaß. Ich drückte meine Hand in die kleine Fensteröffnung des Kartenverkäufers und wedelte mit dem Geldschein hin und her. Nachdem meine Hand eingeschlafen war und die Dönereuphorie vergessen war, nahm der gemächliche zahnlose Herr endlich mein Geld und verkündete mit gelangweilter Miene: „Erste und zweite Klasse sind voll. In der dritten Klasse sind noch Plätze frei!“ So schlimm kann die ja nicht sein und außerdem ist Klassendenken doof, dachte ich und nahm die Papierfahrscheine entgegen.
Als ich mich dann inmitten von schreienden Sockenverkäufern, verrosteten Fenstern und einem nicht zu unterschätzenden Fäkalgeruch wiederfand, war ich für eine kurze Zeit sprachlos. Es gab keine Türen, wenn man im tosenden Fahrtwind also an jener Stelle vorbeigehen würde, wäre man schneller weg als man: „Oh je, ich sterbe!“, sagen könnte. Jede dritte Sekunde kamen lautschreiende Verkäufer in die Abteile und drückten sich mitsamt ihren bunten Waren in den sowieso schon viel zu engen Gang. Dabei priesen sie ihre Waren nicht nur in den ausgefallensten Euphemismen an und beließen es dabei – nein, sie warfen ihre Waren auch noch kreuz und quer auf die Schöße der Leute. Auch ich blieb davon nicht verschont. Auf meinem Schoß landeten Sportbeutel mit ägyptischer Flagge, Kopftuchnadeln, Uhren, Fernbedienungen, Humus, Taschenlampen, Kämme, Horrorgeschichten, Kochrezepte und Eheratgeber mit dem Titel: „Das Geheimnis eines erfüllten Ehelebens“. Anschließend sammelten die Verkäufer ihre Waren wieder ein und nur selten kaufte jemand etwas. Natürlich hatte ich solche Züge schon mal von außen gesehen, aber jetzt in einem zu sitzen und die Gespräche der Leute mitzuhören, war etwas vollkommen anders. Neben mir saß eine kleine Familie, die Frau trug ein hellbraunes Kopftuch und hatte ein schönes, ruhiges Gesicht mit bernsteinfarbenen Augen. Der Mann trug den kleinen Sohn auf den Arm, der seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Zu ihnen gesellte sich eine Niqab-Trägerin, die geschätzte 50 Jahre alt war und deren grüne Augen lebendig unter ihrem Gesichtsschleier blitzten. Sie hatte eine dunkle Stimme und klagte über ihre Nichte, die kein Glück habe mit ihrem Verlobten und sich wahrscheinlich trennen würde, da er weder Wohnung, noch Hochzeit, noch Goldschmuck bezahlen könne. Was sei schon Liebe wenn man davon nicht leben könne, fügte sie nüchtern hinzu. Letztendlich landete man, wie bei allen Gesprächen, denen ich bisher gelauscht habe, bei der Revolution. Sie erzählte von dem Verkehrschaos, das nach dem weiten Verschwinden der Polizei nur noch schlimmer geworden sei.
Innerlich stimmte ich ihr voll zu. Auf dem Weg zum Bahnhof passierten wir eine enge Einbahnstraße und trotzdem herrschte reger Gegenverkehr, was unseren Taxifahrer in berechtigte Rage versetzte: „Ha! Da redet ihr von Mubarak und seiner Schreckensherrschaft – doch letztendlich ist er das geringere Übel. Wer denkt ihr denn, kann über so ein Volk wie uns herrschen? Ein Engel? Denkt ihr ein Engel wird über kleine Teufel herrschen? Unmöglich!“
Dieser Satz brannte sich in mein Hirn an, wie die Mitternachtsformel es immer sollte aber nie tat. Denn er hat Recht, bevor man sich über die Regierung und über seine Lebensumstände beschwert, muss man bei sich selbst anfangen. Regeln einhalten auch wenn niemand einen dafür belangt, wenn man es nicht tut. Kaum dass ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, schmiss ein gerade mal aus seinen Pampers hinausgewachsenes Kleinkind die leere Humustüte vor den Augen seiner Eltern aus dem verrosteten Fenster. Ich verdrehte innerlich die Augen. Als wir endlich in Alexandria angekommen waren, atmete ich gierig die frische, salzige Meeresluft ein und nahm ein Taxi bis zur wunderschönen Meerespromenade.
Dort war ich mit einer Freundin aus Deutschland verabredet. Wir aßen im berühmten „Latino Café“ zu Mittag. Neben uns saßen reiche Schnösel mit Blackberrys und einer Rolex am Handgelenk. Ihre Frauen waren meist halb so alt wie sie selbst und sehr stark geschminkt. Ihre gelangweilt wirkenden Kinder waren meist übergewichtig. Alles sehr klischeehaft. Während ich also mein köstliches Filet Mignon mit „Pepper Sauce“ aß (nicht ohne mich dabei seltsam-snobistisch zu fühlen), dachte ich an das größte Problem Ägyptens. Es fehlt eine stabile Mittelschicht, die einen 3.Klassezug obsolet machen würde. Es fehlt ein gerechtes Steuersystem, es fehlt ein Mindeststandart an Lebensqualität, es fehlt Gerechtigkeit. Doch eins fiel mir im 3.Klassezug auf: Auch wenn die Leute so gut wie nichts hatten, war die Atmosphäre heiter und unbeschwert. Und das fällt mir in Ägypten immer wieder auf, man scherzt über Missstände, um das Ertragen leichter zu machen.
Ich hoffe nur, dass das Scherzen auch bald in tatsächliches Handeln umschlägt.