Revolte

Raus und auf die Straßen und einen Stein in die Hand nehmen und ihn werfen.
Ich stelle mir das so vor: Ich stürme die Treppen hinunter, skandiere: „Es lebe die Revolution, es lebe die Revolution, es lebe die Revolution.“
Da eher ältere Leute in diesem Haus wohnen, könnte es dauern, bis sie ihr Hörgerät angeschaltet haben. Nach etwa einer halben Stunde schlurfen sie verwundert und missmutig zu ihrer Haustür.
Erschöpft renne ich bereits zum zwanzigsten Mal durch das Treppenhaus.
Sie öffnen endlich die Türen, linsen heraus und sagen dann: „Herr Rohm, seien Sie doch bitte etwas ruhiger.“
Das wird mich natürlich nicht bremsen, geht es hier doch schließlich um die Revolution.
Also brülle ich: „Folgt mir! Ich trage den Aufstand jetzt auf die Straße.“
Die alten Leute werden den Kopf schütteln und sich bei Gelegenheit der Hausverwaltung anvertrauen.
Einen echten Revolutionär kann solcherlei Widerstand nicht aufhalten. Er lässt sich von nichts aufhalten. Nicht einmal von Regen.
Leider fällt an diesem Tag davon viel.
Ich setze die Revolution daher für eine Stunde aus. Ich kehre in meine Wohnung zurück, rauche eine Zigarette und sehe mir noch einmal den Film „Lenin – Revolutionär und Frauenheld“ an. Der Film gilt in Fachkreisen als unseriöses Machwerk. Ich mag ihn. Vor allem die Szene, wenn all die Frauen auf Lenin stürmen, um sich für die Revolution leicht bekleidet zu bedanken. Gewagt. Keine Frage. Aber so könnte es gewesen sein.
Wenn der Regen dann endlich nachgelassen hat, kann auch die Revolution fortgesetzt werden.
Ich räume meine Kaffeetasse fort und greife nach dem Revolutionsstein, den ich auch „Stein des Anstoßes“ nenne. Ich habe ihn im letzten Jahr bei einem Badeurlaub in Griechenland aufgelesen und am Zoll vorüber geschmuggelt. Der Stein ist groß und könnte einen großen revolutionären Schaden anrichten. Ich vertraue auf das griechische Steingut, zumal die Griechen auf eine vorbildliche autonome Szene blicken können, die jeden Griechen mit Stolz erfüllen muss.
Ich nehme also meine Revolution wieder auf, stürme abermals schreiend durch das Treppenhaus nach unten. Die alten Leute scheinen sich an meine Unruhen gewöhnt zu haben. Die Türen bleiben geschlossen. Niemand kümmert sich um mich. Das Bürgertum hat also bereits innere Barrikaden errichtet.
Ich lass mich von derlei Widerstand aber nicht abhalten. Ich stürme mit meinem Stein auf die Straße.
Ich bremse ab. Ich stehe vor einem gewissen Anton Wassermann, der, soweit ich mich erinnern kann, drei Häuser entfernt mit seiner Frau und seinem Sohn wohnt. Ich spiele mehrere revolutionäre Anrufungen durch und entscheide mich dann für: „Kapitalistisches Dreckschwein!“
„Herr Rohm!“, ruft er aus.
Ich zeige ihm meinen Stein und kläre ihn kurz und bündig über meine umstürzlerischen Absichten auf. Er könne sich hier und jetzt der Revolution anschließen. Wassermann entscheidet sich dagegen. Ich hebe nur kurz die Schultern und sage dann: „Schade, Sie hätten ein Mitglied des „Komitees zur Niederringung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer eventuellen und noch nicht näher benannten kapitalistischen Folgestaaten“ werden können.“ Er solle sich aber nicht bei mir beschweren, wenn sich Revolutionäre später an seinem Haus und seiner Frau zu schaffen machen.
Wassermann blickt mich grimmig an. Dann holt er aus und verpasst mir eine Ohrfeige. Meine Wange schwillt augenblicklich an. Ich kann es nicht fassen. Kaum ist die Revolution auf die Straße getragen, schon wird sie von der Bourgeoisie verhöhnt und verfolgt.
„Dann halt nicht“, sage ich und trage die Revolution zu seinem Auto. Ich hole aus und versenke den Revolutionsstein …
… leider nicht in seinem Wagen.
Der Stein liegt verloren auf einem Stück Wiese. Wassermann beginnt zu lachen. Ich beschließe mich zurück zu ziehen.
Die Revolution wird kommen. Da bin ich mir sicher. Sie wird ihren Geist durch diese Straße tragen und dann wird es auch für Wassermann einzig noch den zustimmenden Blick geben. Der Kapitalismus ist ein untergehendes System.
Zurück in der Wohnung schalte ich rasch die Nachrichtenkanäle durch. Keine Meldung über mich. Seltsam.
Ich ruhe mich aus. Lege die DVD „Der Pate“ ein. Ich übe die Gesichtszüge von Michael Corleone.
Später am Abend träume ich von einem Besuch meines Nachbarn.
„Du haste also Problema mit der Polizei?“
Ich spreche wie einer dieser Mafiosi.
„Nein“, sagt Wassermann. „Ich habe mit meinem Nachbarn Rohm Probleme. Er beschimpft meine Frau. Was soll ich machen?“
„Ah, nix da, nix da“, sage ich zu ihm. „Rohma ist eine gute Mann. Lass ihn. Er wird uns alle befreien.“
„Meinen Sie wirklich?“
„Hey, sehe ich wie eine dumme kleine Frau aus. Nein! Wasse ich sage, wirde kommen.“
Ich leide an keiner ausufernden Fantasie. Ich glaube einfach an die Revolution. Sie wird kommen. Mit mir. Ohne mich. Darum geht es nicht.
Es geht um die Revolution. Und sie wird irgendwann dort unten auf dieser Straße ankommen.
Sicher!



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