Review: VERTIGO - AUS DEM REICH DER TOTEN - Alfred Hitchcock kann auch emotional

Review: VERTIGO - AUS DEM REICH DER TOTEN - Alfred Hitchcock kann auch emotional
Fakten:
Vertigo - Aus dem Reich der Toten (Vertigo)US. 1958. Regie: Alfred Hitchcock. Buch: Samuel A. Taylor, Alec Coppel, Maxwell Anderson. Pierre Boileau & Thomas Narcejac (Vorlage). Mit: James Stewart, Kim Novak, Barbara Bel Geddes, Tom Helmore, Henry Jones, Ellen Corby, Konstantin Shayne, ua. Länge: 128 Minuten. FSK: freigegeben ab 12 Jahren. Auf DVD und Blu-Ray erhältlich.
Story:
Nachdem Scottie seine große Liebe nicht vor dem Tod retten kann, versucht er eine offensichtliche Doppelgängerin seiner verstorbenen Geliebten an seine Erinnerungen an jene anzupassen. Er beginnt, die Frau seinen Anforderungen gemäß anzupassen.

Meinung:
Alfred Hitchcock. Bei dem Namen klingeln natürlich sofort alle Glocken. Norma(n) Bates, Dollyzoom, „Das Fenster zum Hof“, „Der Unsichtbare Dritte“, „Cocktail für eine Leiche“. Wer schon einmal Zeuge der technischen Perfektion von Hitchcocks Filmen werden durfte, der wird verstehen können, weshalb die Filme des Briten bis heute teils gar noch als Vorreiter gelten. Nicht zu ignorieren sind jedoch die Stimmen, die sich heben und dem Regisseur verachtende Ansichten vorwerfen. Allgemein bekannt sind Aussagen von Hitch, in denen er Schauspieler als „Vieh“ betitelt. Er sei menschenverachtend, misogyn. Das wirft dann die Fragen auf, inwiefern sich das in seinen Filmen widerspiegelt und inwiefern man diese dann noch gut finden darf. „Vertigo“, der ursprünglich wegen seiner Langsamkeit eher zwiegespalten aufgenommen wurde - neben der genannten technischen Perfektion - interessant, weil er sich auf diese Vorwürfe bezieht.

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Scottie wägt  seine Optionen ab

Der Film nutzt seine Geschichte nämlich geschickt, um als Selbstreflexion des Regisseurs zu funktionieren. James Stewarts Charakter Scottie verliert in diesem Film seine Liebe an den Sensenmann. Wenig später trifft er auf eine Frau die seiner Angebeteten unheimlich ähnlich ist. Manisch macht Scottie sich daran, die geheimnisvolle Frau nach seinem Gedankenbild zu formen. Er will sie verändern, seiner Erinnerung, gar einer Leiche anpassen. Er verliert sich in Wunschbildern, in dem dunklen Raum zwischen Sein und Schein. Scottie sucht die Liebe, die erotische Erfüllung in dem Reich der Toten. Der deutsche Nebentitel ist dabei (endlich einmal) überaus wichtig, wenn man dort seinen Denkansatz ansetzt und tiefer in die Gefilde des Filmes vorstoßen möchte. Ganz sinnbildlich nutzt Hitchcock hier eine Schwelle zur „anderen Seite“. Sei es die Golden Gate Bridge, ein Friedhof oder ein Museum. Sie alle fungieren als Portal zu einer neuen Existenz, die Befriedigung verspricht. Aber wieso findet Scottie kein Glück in der unseren Welt? Fühlt er sich als Ausfallprodukt, als Ausschussware in einer Gesellschaft, die ihm erklären will, was er zu fühlen hat und was nicht? Seine Höhenangst, also seine Angst vor dem Fall, wird von seiner besten Freundin und Wissenschaftlern als bloße „Emotion“ abgetan. Eine Krankheit sei das nicht. In Scotties Fall aber führt diese harmlose Emotion zum Verlust des Halts.

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Tolle Aussicht, super Treffpunkt für gemeinsame Selbstmorde

Neben James Stewart und der gefeierten Kim Novak ist aber noch ein dritter Star ein Protagonist des Films. Und das, obwohl er nur einmal kurz durch das Bild läuft. „Vertigo“ ist ein astreines Beispiel dafür, wie der Zuschauer nach dem Sichten eines Filmes oft ein unfassbar klares Bild von einem Menschen haben kann, der wenig bis gar nicht im Film zu sehen ist. Alfred Hitchcock absolviert seinen Cameo-Auftritt bereits zu Beginn des Films. Er ist ein Passant, man sieht ihn, die Aufmerksamen im Publikum freuen sich einen Ast. Alles durchkalkuliert von Hitch, denn der Zuschauer soll sich nicht vom Inhalt ablenken lassen. Der ist ihm ein Anliegen. Hitchcock wurde als finstere Person tituliert, sein (angeblicher) Umgang mit Schauspielern wurde oben beschrieben. Hitchcock bezieht sich auf seine Kritiker, macht deutlich, dass auch er sich derartigem annimmt. Er rechnet nicht wirklich ab, er prüft, erklärt, zeigt auf, rechtfertigt sich gewissermaßen. Vor allem aber sucht er. John Scottie Ferguson versucht, eine Frau nach seinem Belieben umzuformen. Er gönnt ihr keine eigene Gestalt. Das ist verachtend. Im gleichen Sinn versucht Hitchcock, die Schauspieler zu anderen Menschen zu formen. Er will nicht James Stewart sehen, er will Scottie sehen. Erst mit der vollkommenen Transformation des Menschen wird Hitch befriedigt. In diesem Sinne diagnostiziert der Meister sich selbst als Opfer der tiefschwarzen (Todes-)Sehnsucht der Romantik. Der Vorstellung vom perfekten Untergang. Der Vorstellung vom perfekten Ende.

Mit „Vertigo - Aus dem Reich der Toten“ hat Alfred Hitchcock einen großartigen Film geschaffen. Die renommierte (aber auch nicht unkritisierte) Filmzeitschrift Sight & Sound wählte diesen Film 2014 an die Spitze der besten Filme aller Zeiten. Und tatsächlich ist Hitch hier auf der Höhe seines Könnens (souli würde sagen: „Er steht voll im Saft.“). Ein technisches Können, das er tatsächlich durch eine tiefere und sehr emotionale Ebene erweitern kann, ohne die typischen Hitchcock-eigenen Effekte seiner Filme zu verfehlen. Da hilft auch die grandiose Titelsequenz von Legende Saul Bass, die die Thematik und das Gefühl der Unsicherheit, des Ausgeliefertseins auf den Punkt genau übermittelt. Da kann man sich nur verneigen. Faszinierend anzusehen, reich an Ansätzen zum Analysieren und wahrlich zerreißend. Wer Hitchcock vorwirft, er würde alles Gefühl seiner mechanischen Handlung unterordnen, der wäre bei „Vertigo“ an der richtigen Adresse, um sich eines anderen belehren zu lassen.

8,5 von 10 roten Rosen

von Vitellone

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