Review: MEIN BRUDER KAIN – Ich, du und alle anderen, die wir sind

Review: MEIN BRUDER KAIN – Ich, du und alle anderen, die wir sind
Fakten:
Mein Bruder Kain (Raising Cain)
USA. 1992. Regie und Buch: Brian De Palma. Mit: John Lithgow, Steve Bauer, Lolita Davidovich, Frances Sternhagen, Mel Harris, Gregg Henry, Tom Bower, Amanda Pombo, Teri Austin, Gabrielle Carteris u.a. Länge: 87 Minuten. FSK: freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD erhältlich.

Story:
Als Kind war Carter Nix Proband eines umstrittenen psychologischen Experiments. Dies hat zur Folge, dass in Carter, nach dem er entdeckt dass seine Frau ihn betrügt, gleich mehrere verschiedene Persönlichkeiten erwachen.


Meinung:
Schwarzer Engel“? „Teufelskreis Alpha“? „Der Tod kommt zweimal“? Es gibt schon so einige Filme von Brian De Palma, die schlichtweg in Vergessenheit geraten sind. Und wenn man sich dann doch mal an eines dieser weniger populären Werke neben „Carrie“, „Scarface“ oder „Mission: Impossible“ erinnert, dann ist damit auch nicht immer gleich gesagt, dass man sich auch an den Namen Brian De Palma erinnert. Der New Hollywood-Veteran hat es nicht immer leicht gehabt, aber, und das muss man ihm verdammt hoch anrechnen, er hat seinen Kopf immer wieder durchgesetzt, auch wenn die Sittenwächter dieser Welt ihre Nase rümpften und den Bewertungsspiegel seiner Streifen gen Debakel drücken wollten. Allerdings muss man noch einmal darunter unterscheiden, ob bei diesen Filmen, die sich aus dem kollektiven Bewusstsein gestohlen haben, um Filme handelt, die ein derartiges Verdrängen verdient haben oder ob es dann eigentlich doch keine Schande ist.

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Netter Typ, dieser Carter. Und so vielschichtig.

Man muss sich schon als verdammt filmaffin zeigen, um den Film „Mein Bruder Kain“ heutzutage noch wirklich einwandfrei einordnen zu können, denn die Bezeichnung 'aus dem Gedächtnis geschlüpft' ist in diesem Fall noch eine handfeste Untertreibung. Im Gegensatz aber zu „Schwarzer Engel“ und „Teufelskreis Alpha“, die nicht wirklich schlecht waren, aber dann doch mit der eigenen Redundanz zu kämpfen hatten, ist „Mein Bruder Kain“ schon eine kleines Perlchen im bunten Œuvre De Palmas. Mit dem Kolossalflop „Fegefeuer der Eitelkeiten“ im Nacken, der heute exemplarisch dafür herangezogen wird, um aufzeigen, wie extrem ein Film an seinen eigenen Ambitionen scheitern kann, stand De Palmas Karriere, die immer wieder kommerziellen Rückschlägen wegstecken musste, am Scheideweg. „Mein Bruder Kain“ entpuppte sich aber als weiterer Niederschlag und beließ die Kinokassen in Tiefschlaf. Warum liegt auf der Hand, stemmt sich Brian De Palma doch wiedermal gegen sämtliche narrative Konventionen und konterkariert sein eigenes Sujet zuweilen mit ironischem Grinsen. Der prognostizierte Untergang De Palmas ist auch nach „Mein Bruder Kain“ nicht eingetreten, denn mit „Carlito's Way“ und „Mission: Impossible“ folgten gleich zwei Volltreffer auf dem Fuße.

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Gestatten, der 'touch of evil'

Dass es „Mein Bruder Kain“ aber auch nur in Fan- und Cineasten-Kreisen dazu bringen würde, sich einen kleinen Namen zu machen, wusste De Palma sicher schon als er das Drehbuch verfasste und sich um den gegenwärtigen Usus der Kinolandschaft rebellisch einen Dreck scherte. John Lithgow, mit dem De Palma schon in „Schwarzer Engel“ und „Blow Out“ partizipierte und der zu den Lieblingsdarstellern des Visionärs zählt, gibt den unter dissoziativer Persönlichkeitsstörung leidenden Hauptdarsteller und muss zwischen dem Kinderpsychologen Dr. Carter Nix, dem Mutterschiff des Wahnsinns, dem aufbrausenden Cain, seinem Vater Dr. Carter Nix Senior (mit schwedischem Akzent), der Pädagogin Margo und dem Kind Josh umherspringen, wenngleich der Letzterem nur die Stimme leiht. Daraus keim eine Performance, oszillierend zwischen angsteinflößendem Wahnsinn und überbordendem Overacting. Faszinierend auf eine seltsam betörende Weise lässt sich das Spiel Lithgows festhalten.
„Mein Bruder Kain“ brüstet sich also mit dem psychologischen Phänomen der multiplen Identitätsstörung, setzt daneben mit einem Thriller-Plot an, der sich um entführte Kinder, bittere Experimente und grausame Rache strickt.

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Wieso so ein Gesicht? Mehr Ehemänner, mehr Auswahl!

Dementsprechend wirr scheint „Mein Bruder Kain“ verschachtelt, ist dabei aber wieder so klug, um sich darauf zu berufen, ein Gefühl der seelischen Gespaltenheit seines Protagonisten evozieren zu wollen und die anmutende Kritik auf eine nachvollziehbare Methodik zu betten – Auch wenn die Psychologisierung oftmals bei Heinz und Franz in der Waschküche strandet, aber das ist man ja von De Palma gewohnt und man nimmt derlei wesensmäßige Simplifizierungen gerne mal in Kauf. De Palma verzichtet auf eine lange Exposition, schreitet gleich zur Tat, baut ein in sich streng geordnetes Provinzstadt auf, um diese Fassade dann schnell mit einem Taschentuch und einem Spritzer Chloroform wieder einzureißen. Danach rollt die De Palma-Dampflok in angemessenem, aber niemals überwältigendem Tempo und schafft es sein Szenario mit durchachten Finten ironisch zu brechen und „Mein Bruder Kain“ plötzlich als schwarze Komödie erstrahlen zu lassen. Selbstreflexiv geht De Palma zu Werke, ist aber nicht so clever wie beispielsweise in „Der Tod kommt zweimal“, bei dem er auch im eigenen Fundus wühlte, aber seinen Zuschauer mit einer zweiten, dritten und vierten Ebene unter seiner oftmals ulkig gekoppelten Textur konfrontierte.

Wie intelligent De Palma mit dem Medium aber letztlich wirklich umzugehen weiß, beweist er in einer Szene: Eine Plansequenz (was sonst?) formt die City Hall von Mountain View zur Metapher, in der wir Dr. Waldheim, die uns das Wesen der multiplen Persönlichkeitsstörung erklärt, durch das Gebäude begleiten und immer tiefer, bis in den Keller, die Psyche, gleiten und damit das physische Plateau vollkommen verlassen haben. Die Kamera heftet sich dabei an Dr. Waldheim, mal aus der Distanz, mal gefährlich nah an sie gepresst, aber immer beobachtend, und egal wie oft Dr. Waldheim den falschen Gang wählen möchte, die Kamera zerrt sie mit. Da kommt das Kunstverständnis De Palma wieder voll zur Geltung und für solche Momente muss man ihn lieben, egal wie sehr er sich auch in mehr oder weniger müden Selbstzitaten suhlt. Der Mann hat respektive hatte einiges auf dem Kasten.

6 von 10 Skalpellen im Nacken

von souli

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