Review: KLASS - Das wiederkehrende Grauen verdrängter Erinnerungen

Review: KLASS - Das wiederkehrende Grauen verdrängter Erinnerungen
Fakten:
Klass
Estland. 2007. Regie und Buch: Ilmar Raag. Mit: Pärt Uusberg, Vallo Kirs, Lauri Pedaja, Riina Ries, Mikk Mägi, Paula Solvak, Joonas Paas, Kadi Metsla, Triin Tenso, Virgo Ernits, Karl Sakrits u.a. Länge: 97 Minuten. FSK: freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD erhältlich.

Story:
Die Schule ist für Joosep eine tägliche Tortur. Kein Tag vergeht, in dem er nicht von seinen Mitschülern gemobbt wird. Vor allem sein Klassenkamerad Anders hat es auf ihn abgesehen. Als Joosep nach dem Sportunterricht in der Mädchengarderobe eingesperrt wird, bekommt er endlich Hilfe. Mitschüler Kaspar setzt sich für ihn ein und die beiden werden Freunde. Kaspar versucht Joosep dabei zu unterstützen damit zurecht zu kommen gemobbt zu werden, versucht ihm zu helfen sich zu verteidigen, doch diese neue Freundschaft steuert auf eine Katastrophe zu.


Meinung:
Jeder kennt das Gefühl, morgens mit verschlafenen Augen in die Klasse zu kommen und wieder schweren Herzens Zeuge davon zu werden, wie ein auserkorener Mitschüler wiederholt vom selbsternannten Alphatier der Gemeinschaft und seinen blinde Schergen tyrannisiert und bloßgestellt wird. Etwas dagegen unternommen haben wohl nur die Wenigstens, zu groß ist die Gefahr seinen anerkannten Stand zu verlieren und zu pochend die Angst, selber schlagartig in die Opferrolle zu rutschen. Man versteckt sein Mitleid, packt die Mappe auf den Tisch und hofft auf die baldige Ankunft der Lehrkraft – begleitet von beißenden Gewissensbissen. Warum das überall so ist? Weil sich ein derartiger Habitus im Verhaltensmuster des Menschen eingeprägt hat und dieser nicht nur Teil eines Kollektivs sein will, er möchte auch zu gerne der Dirigent eines solchen sein und den Taktstock gen Himmel strecken. Diese Verbundenheit wird oft mit der charakterlosen Mitläuferschaft oder dem blinden Opportunismus assoziiert – Hauptsache man teilt nur aus, muss aber nicht einstecken.

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Joosep und Anders schmieden Pläne

Und dieses stetige Verlangen, sich als Anführer aufspielen zu müssen, unbedingt am längeren Hebel zu sitzen, sind genau wie das Verleugnen jeglicher Courage und Ehre natürlich auch ein schwerwiegender Bestandteil des eigenen Entwicklungsprozesses. Während die persönlichen, mannigfachen Probleme in der Pubertät für jedes Individuum die schlimmsten zu sein scheinen, ist der Wunsch nach Akzeptanz und die adoleszente Demonstration der eigenen Leistungsfähigkeit ebenso – vordergründig - vollkommen der Normalität verschrieben. Dieses gewöhnliche Auftreten und Benehmen ufert dann ins verwerfliche Extrem aus, wenn das Klassenzimmer oder die Arbeitsstelle plötzlich nur noch nach dem Gesetz des Dschungels agiert und zum zermürbenden Psychoterror ausholt, der eine selektierte Person nach und nach zerbrechen lässt und das vereinte Mobbing als Produkt des maliziösen Zusammenhalt manifestiert. Es entsteht ein Teufelskreis, der alle Beteiligten auf lange Sicht zerstört.

In Ilmar Raags „Klass“ trifft genau dieser Fall ein. Es wird eine Klasse fokussiert, in dem der Schüler Anders das Sagen hat und seine Kameraden wie stumpfe Handlanger um sich schart, ohne jede Reflexion, ohne jedes Gewissen. Das Opfer ist erst nur Joosep, ein introvertierter Junge, der sich allem Anschein nicht in den „coolen Kreis“ einfügen kann und will, schließlich gelingt ihm ja noch nicht einmal ein simpler Korbwurf beim Schulsport. Doch weder Schinder Anders, noch der malträtierte Joosep sind die Hauptfiguren in diesem Schreckensszenario verdrängter Erinnerungen. Dreh- und Angelpunkt wird Kasper (Hervorragend verkörpert von Vallo Kirs, eine unglaubliche Entdeckung!), der sich zu Anfang zur Gefolgschaft Anders' zählt und Joosep bereitwillig nackt in die Mädchenumkleide sperrt, während seine Freundin Thea noch an seinen Anstand appelliert. Eine eigentlich richtige Ermahnung an Kasper, die ihm jedoch kurzerhand in die gleiche Rolle wie Joosep drängt: Er hat dem „Freak“ geholfen.

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Alle gegen den "Freak"

Zugegeben, „Klass“ ist ein ungemein subjektiver Film und dieser Umstand demaskiert sein dokumentarisches Anliegen schon als bloße Behauptung; genau wie das Drehbuch mal haarscharf an Klischees entlang schrammt, sie aber auch gerne mal – allerdings in einem vollkommen vertretbaren Rahmen – bedient. Schließlich sind diese filmgewordenen Klischees auch Erzeugnis unserer Realität. Das Umfeld von Kaspar und Joosep zeichnet sich durch Tumbheit und Naivität aus, denn während Jooseps Vater nur möchte, dass Joosep seinen Peinigern mal so richtig die Fresse politiert, ist Kaspars Oma gesegnet mit verblendeter Blauäugigkeit und hinterfragt keinerlei gefällte Aussage. Den Dingen auf den Zahn fühlen kann niemand der Erziehungsberechtigten,  genau wie die Lehrer der Wahrheit nicht ins Gesicht blicken wollen und einzig mit leeren Drohungen jonglieren. Kaspar und Joosep stecken die Demütigungen jeden Tag aufs Neue ein, kassieren Schläge und Tritte und müssen sich an einem Strand der sexualisierten Erniedrigung vor versammelter Mannschaft hingeben.

Am Ende folgt dann die erschütternde Eskalation; eine Katastrophe, der von Minute eins jede Lösungsmöglichkeit und Schuldzuweisung verweigert wurde, weil jede Stellungnahme in diesem Fall als hinderlicher Fremdkörper auftreten würde. Diesen Schritt, den Kaspar und Joosep einschlagen, lässt sich keinesfalls als „logische Konsequenz“ titulieren, selbst wenn er – aufgrund seiner vollständigen Subjektivität – die anderen Mitschüler als widerliche Sadisten ohne Sinn und Verstand darstellt, sondern als ein Resultat von Unmengen angehäufter Fehlreaktionen. Und dort bekommt „Klaas“ seinen dokumentarischen Charakter wieder zugesprochen und macht dieses bleierne Gefühl in der Magengrube erst in vollem Ausmaß spürbar. Fehlende Kommunikation, fehlendes Verantwortungsgefühl und das fehlende Vertreten der Vorbildfunktion – Eine Kulmination, deren verwurzelte Problematik nicht minder diskutabel ist, als das Gehabe der Jugendlichen. „Klass“ ist ein ungemein wichtiger Film, verstörend und leider, leider auch gezeichnet von bitterer Ehrlichkeit.

8,5 von 10 wertlosen Markenprodukten

von souli

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