Review: IDIOTEN - Sind wir nicht alle ein bisschen Gaga?

Erstellt am 31. Mai 2013 von Die Drei Muscheln @DieDreiMuscheln

Fakten:
Idioten (Idioterne)
Dänemark. 1998. Regie und Buch: Lars von Trier. Mit: Bodil Jørgensen, Jens Albinius, Anne Louise Hassing, Nikolaj Lie Kaas, Knud Rhomer, Troels Lyby, Louise Mieritz, Trine Michelsen, Luis Mesonero, Henrik Prip, Anne-Grethe Bjarups Riis, Paprika Steen, Lars von Trier, Anders Hove u.a. Länge 110 Minuten. FSK: freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD erhältlich.

Story:
Fasziniert schaut Karen zwei offenbar geistig behinderten Männern dabei zu, wie sie in einem Restaurant ohne Hemmungen mit ihrem Pfleger und vor allen Augen herumalbern. Karen geht schließlich mit den Männern mit, die mit anderen in einer Villa leben. Dort muss Karen erkennen, dass die Männer kern gesund sind und ihre Behinderung nur gespielt haben, um das Bürgertum herauszufordern.


Meinung:
In seinem Leben strebt der Mensch die verschiedensten Ziele an: Die Gründung der eigenen Familie, das ausreichende Füllen des Bankkontos für die Zukunft und die eigenen Sprösslinge oder der rasche Aufstieg auf der Karriereleiter. Alles etablierte Ziele, die man durch die Eigeninitiative und den Ehrgeiz mit der Zeit erreichen könnte. Jedoch überwiegt im Menschen grundsätzlich etwas ganz anderes, nämlich ein gezielter Wunsch, der ihm und jeder anderen Person in der Gegenwart und in Zukunft ermöglicht, zwanghafte Verhaltensweisen abzulegen und ohne Druck verschiedene Perspektiven für das weitere Handeln zu betrachten und für sich abzuwägen: Die Freiheit. Ein inniges Bedürfnis, welches dem Menschen zu dem macht, was er wirklich ist und sein kann. Dabei wird differenziert zwischen mentaler Freiheit, der keine Kette dieser Welt eine Grenze setzen kann und der physischen Freiheit, die dem Gesetz des Dschungels bis in alle Ewigkeit unterlegen ist.

Idiotische Zärtlichkeit

Wenn man diese Sehnsucht nach individueller Autonomie auf die heutige Gesellschaft projiziert, dann wird schnell klar, dass diese aus Einschnürungen, Regeln, Forderungen und Ansprüchen besteht. Von Kinderschuhen an wird vorgeschrieben, wie man sich zu verhalten ist, welche Schritte man einschlagen muss, wie das eigene Leben auszusehen hat. Es ist also mehr als dringend von Nöten, diesen steifen Konventionen einen Strich durch die Rechnung zu machen und der Gesellschaft gleichzeitig den Spiegel vor die verzogene Visage zu halten. Wer könnte sich einem solchen Thema also besser annehmen, als der von Medien zum »enfant terrible« stilisierte Lars von Trier, bei dem es nicht unbedingt zum herkömmlichen Usus gehört, sich so zu benehmen, wie es der Großteil der Welt gerne hätte. Und dass ist gut so. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass sein Film »Idioten« reichlich Gegenwind erfahren mussten, weil er ein signifikantes Anliegen hatte, dass er auf unkonventionelle Art und Weise ansprach und in dieser Causa nicht auf Provokationen des Rezipienten verzichtete.

Dabei lässt sich das Gerüst der Handlung von »Idioten« recht schnell zusammenfassen: Es geht um eine Handvoll Leute, die sich als geistig Behinderte ausgeben und die Menschen aus der Umgebung herauszufordern wie wachzurütteln, gleichzeitig aber auch um den eigenen Idioten auferstehen und das Gefühl der Lebendigkeit endlich wieder durch den Körper strömen zu lassen. So weit, so gut. Was zu Anfang noch als recht amüsant zu beobachtendes Experiment beginnt, in dem sich die Gruppe in aller Öffentlichkeit ungezügelt austobt und die Behinderten mimen, ist Lars von Triers Intention natürlich weitaus komplexer, als nur grenzüberschreitende Blödeleien zu dokumentieren. »Idioten« ist in gewissem Maße natürlich Gesellschaftskritik, in der sich nicht nur die Protagonisten stellenweise fragen, wieso sie das Ganze hier eigentlich veranstalten, wieso sie sabbernd und johlend durch die Straßen laufen, sondern auch der Zuschauer wird mit der Frage konfrontiert, zu welchem Preis dieses Projekt gestartet wurde und wie er es selbst einstufen möchte: Wer ist hier wirklich der Idiot?

Idioten-Ausflug

Lars von Trier geht zum Glück nicht den dilettantischen Schritt und bezieht sich nicht auf reziproke Prinzipien: Die Blöden sind die Klugen, die Gesunden sind die Kranken. Nein, eigentlich sind hier alle Beteiligten Idioten, selbst der Zuschauer ist ein Idiot, damit muss er einfach leben. Es geht einzig darum, welche Ideologien diese Gruppierung in ihrem Zusammensein schmiedete und was schlussendlich wirklich auf der Habenseite stehen sollte. In »Idioten« geht es eben nicht nur um die Rebellion gegen faschistische Systeme, sondern auch darum, den Weg zurück zur unverstellten Natürlichkeit zu finden. Lars von Trier startet einen Aufruf, den Idioten der in jedem von uns vertreten ist endlich wieder freizulassen. Und wenn dazu eine derart vertraute Kommune herhalten muss, dann dient das zwar als Mittel zum Zweck, aber ist in keinem Fall als verwerflich zu titulieren. Genau wie es in »Idioten« mehr und mehr zu seelischen Entblößung innerhalb der Gruppe kommt, erliegt auch der Zuschauer der Ansteckungsgefahr der subkulturellen Gemeinschaft. Wer hätte sich ihnen nicht angeschlossen?

Als es allerdings zum ersten Vorfall kommt und ein Mitglied gegen ihren Willen austreten muss, spitzt sich die Lage zu und es wird von den Mitgliedern verlangt, sich nicht nur im kleinen Kreis zum Idioten zu machen, sondern auch im privaten und beruflichen Umfeld. Die Gruppe zerfällt langsam, jeder geht wieder seiner gewohnten Wege, nur eine Person, die zu Anfang noch die größten Zweifel hegte, will das Ende nicht akzeptieren und geht den Schritt, den keiner wagte. Auch diese Szene steht symptomatisch für unsere Gesellschaft, in der sich Alphatiere schneller revozieren als sie sich eingestehen wollen und die stillen Anhänger ohne die „familiäre“ Solidarität nicht weitermachen wollen. Schließlich darf nicht alles umsonst gewesen sein. »Idioten« erreicht in der zweiten Hälfte einen bestimmten Abschnitt, in dem das Lachen im Hals stecken bleibt und die Alternativgesellschaft ohne Limit zum Scheitern verurteilt ist. Der geplante Befreiungsschlag führt wieder zurück in den Schoß der Verpflichtungen und Vorschriften. Idioten sind wir alle.

„Weg von Oberflächlichkeit, hin zum Inhalt“. Lars von Trier hat genau wie Thomas Vinterberg gezeigt, wie man ein solches Anstreben exzellent erfüllt. Da ist jede Verurteilung gegenüber dem Dogma-95-Manifest deplatziert, denn wo einige den Film als »billig« und »amateurhaft« bezeichnen wollen, ist »Idioten« einfach nur von dokumentarischer Authentizität gezeichnet, selbst wenn Lars von Trier sich in diesem Fall nicht strikt an die Regeln gehalten hat. Am Ende sind das alles belanglose Anekdoten. Letztlich zählt, dass hier anspruchsvoll etwas thematisiert wurde, was sich nicht nur auf gesellschaftlichen Gesichtspunkten kritisch entfalten darf, hier geht es auch um den Menschen als solchen und dem steinigen Marsch zur subjektiven Befreiung, direkt ins sorglose(ere) Glück. Auf Filme einzuprügeln, die die eigenen Vorstellungen nicht ansprechen, ist immer leicht. Hinsehen anstatt nur zuzuschauen schon viel schwieriger. Die Mühe hat sich Lars von Trier und »Idioten« aber redlich verdient.

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von souli