Review: GONE BABY GONE - KEIN KINDERSPIEL - Was ist schon gerecht?

Erstellt am 4. November 2014 von Die Drei Muscheln @DieDreiMuscheln

Fakten:Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel (Gone Baby Gone)USA, 2007. Regie: Ben Affleck. Buch: Ben Affleck, Aaron Stockhard, Dennis Lehane (Vorlage). Mit: Casey Affleck, Michelle Monaghan, Ed Harris, Morgan Freeman, John Ashton, Amy Ryan, Amy Madigan, Titus Welliver, Michael Kenneth Williams, Edi Gathegi, Mark Margolis, Madeline O’Brien u.a. Länge: 110 Minuten. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.
Story:Ein kleines Mädchen ist seit drei Tagen verschwunden. Verzweifelt wenden sich Onkel und Tante des Kindes an Patrick und Angie, ein Detektiv-Pärchen. Sie sollen die Polizei bei ihren Ermittlungen unterstützen. Tatsächlich kommen sie durch ihre Nachforschungen auf eine heiße Spur, die tiefe Abgründe im Umfeld der Familie offenbart. Als sie kurz vor der Auflösung des Falls stehen, kommt es zur Katastrophe. Doch das ist noch lange nicht das Ende der Fahnenstange…
  
Meinung:Eigentlich müsste man Ben Affleck ohrfeigen. Jahrelang geisterte er als angeblicher A-Klasse-Darsteller durch unzählige Produktionen und zählte damit wohl zu den nervigsten Leading-Men des neuen Jahrtausends. Dann kommt sein Regiedebüt „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“ auf die Leinwand und man reibt sich verdutzt die Augen. Nicht weniger als einer der besten Thriller und Filme generell seiner Zeit ist das geworden, darüber hinaus war Mr. Affleck sogar so wenig eitel, sich nicht selbst auch nur eine kleine Rolle zu gönnen. Egal, wie sehr er vorher auf den Wecker fiel und reichlich Angriffsfläche an seinen begrenzten darstellerischen Fähigkeiten bot, das verdient höchsten Respekt. Warum dann ohrfeigen? Verdammt, warum denn nicht gleich so?!

Ohne Koks ist Mutti nur schwer zu ertragen.

Affleck’s Film ruft schnell Assoziationen zu Clint Eastwood’s drei Jahre vorher erschienenen Meisterwerk „Mystic River“ auf, nicht ganz zufällig. Beides sind Verfilmungen eines Romans von Dennis Lehane, beide spielen in der unteren Schicht von Boston, erzählen eine Krimistory, die existenzielle Grundfragen um Recht, Gerechtigkeit und persönliche Moral nicht nur beinhalten, sondern zu wesentlichen Elementen macht und offensichtlich orientiert sich Affleck auch sehr direkt wie bewusst an dem Stil von Eastwood. Vollkommen legitim, da es nicht nur der Geschichte und der Stimmung mehr als angemessen ist, Affleck beherrscht diese Form der Inszenierung fast schon erschreckend abgeklärt. Kaum zu glauben, dass dies sein Regiedebüt war. Manche Kollegen haben weniger Talent und können auf eine längere Karrier zurück schauen, auch im gehobenen Bereich. Unverkennbar bewegt sich der Regisseur hier auf bekannten Terrain, kennt die Straßen von Boston, seine Einwohner, das gesamte geschilderte Milieu aus dem Effeff. Selten wurde in einer größeren US-Produktion – die nicht im Hillbilly-Hinterwäldler-Land in Red-Neck-County spielt – so zahlreich fettleibige, vom Leben gezeichnete, ungeschliffen-rohe Figuren gezeigt, die nicht vorgeführt werden, sondern absolut authentisch wirken. Normalerweise präsentieren sich die USA ja gerne als das Land der hübschen Menschen, nur Schurken und zwielichtige Gestalten scheinen die „Hässlichkeit“ für sich gepachtet zu haben. Hier zeigen sie den Alltag, das pralle, nicht immer bilderbuchreife Leben. Vor dieser ungeschminkten Kulisse erzählt „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“ seine Geschichte, die auch nur hier die entsprechende Wirkung entfalten kann.

Dieser Onkel ist da weit weniger verständnisvoll.

Ein kleines Mädchen ist verschwunden, vermutlich entführt, und ein Detektiv-Pärchen wird zu dem Fall hinzugezogen. Zunächst wissen sie nicht so recht, was sie denn eigentlich zu den Ermittlungen beitragen sollen, schließlich sind der gesamte Polizeiapparat und die Medien schon längst an der Sache dran. Doch gerade ihre Beziehungen und Kontakte zum Gesocks verschaffen ihnen einen Vorteil. Während Michelle Monaghan nicht richtig aus ihrer Sidekick-Rolle hervorstechen kann, glänzt Casey Affleck  – der jüngere Bruder des Regisseurs – in einer seiner ersten Hauptrollen. Dank „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“ und eben diesen Film konnte er 2007 als das Jahr seines Durchbruchs bezeichnen. Nebenbei offenbart er mehr darstellerisches Talent, als es sein Bruder bis heute gezeigt hat. Die Qualität seiner Performance besticht nicht – wie der Film insgesamt – durch extrovertierten Firlefanz, sondern durch puren Ausdruck, reine, ungefilterte Wirkung, auf das Wesentliche gemünzten Stallgeruch. Selbst im Angesicht des Giganten Ed Harris verblasst der „kleine“ Affleck nicht mal ansatzweise, erweist sich als absoluter Glücksgriff, gerade da er und sein Gesicht zur damaligen Zeit noch unverbraucht und dadurch extrem echt wirkten. Nicht auszudenken (was nicht mal unwahrscheinlich gewesen wäre), wenn Ben sich selbst diese Rolle zugesprochen hätte. Und deshalb gerne noch mal, vielen Dank, Ben Affleck.

Im Wein (oder auch Rum) liegt die Wahrheit...

Unabhängig davon, das sind alles nur Details, denn im Kern überzeugt der Film schlicht durch eine ganz klassische, unaufgeregte Struktur, die es nicht nötig hat sich durch aufgeplusterter Effekthascherei aufwerten zu müssen. Keine stylisches Schnittgewitter, kein hastiges, überdrehtes Tempo, es herrscht ein natürlicher Erzählfluss, der auf einer clever konzipierten Story beruht. Vorschnell könnte das unschöne Wort „überkonstruiert“ in den Raum geworfen werden, doch gerade das ist es eben nicht. Sicher, der Plot nimmt immer wieder geschickte und wenig offensichtliche Wendungen, die (Gott sei Dank) nicht unbedingt dem üblichen Alltag entsprechen, aber – und das ist das Ding – es wäre so tatsächlich glaubhaft, geht in seiner inneren Logik voll und schlüssig auf. Letztlich gibt es deshalb doch Filme. Um solche Geschichten zu erzählen und wenn sie am Ende trotzdem noch real wirken, wurde alles richtig gemacht. „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel“ taucht in einen verzwickten Sumpf um Entführung, Erpressung, Pädophilie, Drogen und Geheimisse ein, hält dadurch wahnsinnig gekonnt bei der Stange und schafft es im Finale sogar, eine ungemein wichtige Frage zu stellen. Was ist am Ende des Tages eigentlich richtig oder falsch? Gibt es diese ultimative Antwort oder muss man sich für die eine Seite der Medaille entscheiden, mit allen Konsequenzen, um sich danach noch im Spiegel ansehen zu können? Und wenn, wie schwer wiegt der Einsatz?
Grandios, dass selbst diese Antwort dem Zuschauer nicht als einzig richtige Wahrheit zum Wohlfühlen vorgekaut wird. Ambivalenter waren Hollywoodfilme, besonders in den letzten Jahren, mit ihrem Ende seltener als hier. Er zeigt eine Option, nicht die Lösung und definiert auch nicht die Alternative als richtig oder falsch. Das überlässt er jedem selbst. Fantastischer Abschluss zu einem wunderbaren Film.
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