Review: EIN PROPHET - Das Leben im Gefängnis: Wiedergeburt und Selbstfindung


Review: EIN PROPHET - Das Leben im Gefängnis: Wiedergeburt und Selbstfindung
Fakten:
Ein Prophet (Un Prophète)
Frankreich. 2009. Regie: Jacques Audidard. Buch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain, Abdel Raouf Dafri, Nicolas Peufaillit. Mit: Tahar Rahim, Niels Arestrup, Gilles Cohen, Antoine Basler, Leïla Bekhti, Serge Boutleroff, Foued Nassah, Alaa Safi, Guillaume Verdier, Salem Kali, Alain Raymond, Farid Elouardi, Adel Bencherif, Alexandre de Seze, Hichem Yacoubi, Jean-Emmanuel Pagni, Karim Leklou, Eric Badoc, Laurent Blanquet, Kamel Labroudi, Didier de Backer, Fadil Kadri, Karim Traikia, Kamel Saadi, Sonia Hell u.a. Länge: 154 Minuten. FSK: freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erfolgreich.

Story:
Der 19jährige Malik muss für sechs Jahre hinter Gittern. Er kommt in einen Knast, den der inhaftierte Luciano und seine korsische Mafia in der Hand haben. Luciano nimmt Malik bei ihm auf, jedoch nicht ohne Hintergedanken: Malik soll seinen Zellenmitinsassen töten, was dieser auch widerwillig tut. Somit erlangt der Lucianos Vertrauen und steigt in der Rangfolge auf und wird nach und nach Lucianos Vertrauter, ohne dabei von dessen Männern akzeptiert zu werden.


Meinung:
Aus herkömmlichen Gefängnisfilmen ist man es nun zu genüge gewohnt, dass sich die thematische Vielschichtigkeit doch weitestgehend in Grenzen hält. In den meisten Fällen läuft es so ab, dass man als Zuschauer einen (stereo-)typischen Charakter als Hauptdarsteller serviert bekommt, der zwar keine weiße Weste hat, einem aber direkt sympathisch gemacht wird. Diese Person findet hinter den tristen Mauern Freunde und Feinde, durchlebt den standardisierten Auf- und Abstieg und darf am Rande maximal einen ethnischen Konflikt streifen, der aber vielmehr dazu dient, um die obligatorischen Knastklischees vom berüchtigten Gang unter die Dusche, bis zum penibel geplanten Ausbruch zu füttern. Jacques Audidard beweist mit „Ein Prophet“ hingegen, wie man dem Gefängnis-Sujet inspirierte Facetten verleihen kann und den Blick nicht nur starr auf die dumpfen Mechanismen innerhalb des Mikrokosmos richtet.

Review: EIN PROPHET - Das Leben im Gefängnis: Wiedergeburt und Selbstfindung

Malik (r.) und sein heimlicher Mentor Luciano

In „Ein Prophet“ gibt es daher auch nicht nur eine zentrierte Sachlage, sondern eine ganze Bandbreite an Subtexten. Unschwer am Titel zu erkennen ist, dass der Film eine religiöse Note inne trägt, die im Verlauf der Geschichte zwar immer deutlicher wird und von Symbolik geprägten Einstellung Verstärkung erhält, sich aber nie plump vor den Zuschauer drängelt, um ihn in irgendeiner Art und Wiese zu belehren. Dreh- und Angelpunkt Malik wird in seiner 6-jährigen Gefängnisstrafe zum Wiedergeborenen, der sich selbst zwischen Korsen und Muslimen findet, welche alle symptomatisch für die größten Glaubenslehren stehen. Verlässt man diesen Denkansatz allerdings und sucht einen weiteren Anhaltspunkt, stößt man auf die sozialen Folgen der französischen Gesellschaftsverhältnisse. Französische Großstädte sind die Sammelbecken von der rapide in die Höhe schießenden Jugendkriminalität, in der sich einzig durch Gewalt verständigt wird und man früher oder später so oder so hinter Gittern landen wird. Für diese Menschen ist das Gefängnis jedoch kein niederschlagender Schlusspunkt, sondern ein Neuanfang, der die Möglichkeit offenbart, Fähigkeiten zu erlernen, die man auf der Straße nie geboten bekommen hätte. Malik verwandelt sich in seinem Aufenthalt Stück für Stück und wird vom analphabetischen Laufburschen zum eigenständigen Pläneschmied. Daraus resultiert, dass „Ein Prophet“ im Eigentlichen auch kein Film über das schwere Leben im Gefängnis ist, sondern ein Film über die weitreichende Identitätsfindung, die jede Ketten sprengt und die Zeit im Bau schnell zum Makrokosmos werden lässt, in dem die es nie zum Stillstand kommt; hier herrschen die gleichen Regeln wie auf freiem Fuß. „Ein Prophet“ ist sozusagen eine Auseinandersetzung mit fundamentalen Werten in einer Welt, in der das Gesetz des Dschungels herrscht, Anpassung erforderlich ist und Schutz nie gleichbedeutend mit Respekt ist.
Es haben genau die Personen das Sagen, die sich über all die Jahre durch Gefälligkeiten und gewisse Dienste die meisten Beziehungen aufgebaut haben. Die wahren Anführer und Strippenzieher sitzen in den Zellen und degradieren Vollzugskräfte zu Marionetten ihrer Bedürfnisse. Was sich aber neben dem mannigfachen Drehbuch und der mehr als authentischen Charakterstudie des 19-jährigen Maik (Tahar Rahim ist eine Wucht!) abzeichnet, ist Audiards charakteristisches Inszenierungsverständnis, dass immer genau dann überwältigt, wenn Audiard aus unscheinbaren Augenblicken eine organische Intensität zieht, die sich mit den eruptiven Szenen in ihrer konzeptionellen Eindringlichkeit problemlos messen lassen können. Viele Regisseure wären an diesem tiefgängigen wie umfassenden Spektrum an Inhalten gescheitert, Audiard weiß eben genau, wie ein Moment aufgebaut werden muss, ohne vermessen, moralisierend, überladen oder klischeehaft zu wirken. Mei-ster-werk.

8,5 von 10 Rasierklingen in der Wangentasche

von souli


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