Review: DIE KLAVIERSPIELERIN - Sehnsüchte einer gebrochenen Seele

Erstellt am 1. April 2014 von Die Drei Muscheln @DieDreiMuscheln

                                                                          
Fakten:
Die Klavierspielerin (La pianiste)
AT, FR, 2001. Regie: Michael Haneke. Buch: Michael Haneke, Elfriede Jelinek (Buchvorlage). Mit: Isabelle Huppert, Benoit Magimel, Annie Girardot, Susanne Lothar, Udo Samel, Anna Sigalevitch, Cornelia Köndgen, Thomas Weinhappel u.a. Länge: 126 Minuten. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD erhältlich.
Story:
Erika ist Anfang vierzig, Klavierlehrerin am Konservatorium in Wien und lebt zusammen mit ihrer Mutter, die ihr gesamtes Leben kontrolliert. In ihrer Persönlichkeitsentwicklung und besonders Sexualität unterdrückt sucht Erika heimlich Befriedigung in Erotik-Kinos und Peep-Shows. Bis ihr der Student Walter versucht nahe zu kommen. Daraus entsteht eine krankhafte Beziehung mit tragischem Ausgang.


  
 

Meinung:
Die Geschichte einer verkrüppelten Seele, die abgeschirmt von der Realität sich in Vorstellungen und Wunschträumen verloren hat, um am Ende festzustellen, dass die Erfüllung der Phantasien ebenso grausam ist wie die Fragmente ihrer bisherigen Existenz.

 

Am Boden, physisch und psychisch.

Michael Haneke hat in der Romanvorlage von Elfriede Jenlinek einen Stoff gefunden, der so genau auch von ihm stammen könnte und an dessen Umsetzung sich dementsprechend niemand vorher wagte. Ein zu tiefst trauriger, schauderhafter Blick in menschliche Abgründe. Mit Ruhe und Geduld, objektiv kalter Distanz und dennoch so erschütternd dicht dran erzählt, wie es (scheinbar) nur der umstrittene Österreicher vermag. Es gibt wohl wirklich niemanden im europäischen Kino, der sich so enorm auf die exakte Darstellung des Grauens hinter der gutbürgerlichen Fassade versteht, das so oft als unerklärlich abgestempelt wird, wenn einem nicht der Einblick gewährt wird. Wie immer schildert Haneke nicht den direkten Ursprung, sondern zeigt uns nur eine Bestandsaufnahme. Wir befinden uns durchgehend im Hier und Jetzt. Sehen, was Erika ist, nicht wie sie zu dem wurde. Es lässt sich vermuten, spekulieren, ohne Erklärungen, doch recht klar ersichtlich. Eingesperrt und isoliert, kontrolliert und dominiert, versucht sie die Bruchstücke der eigenen Identität an anderen Stellen auszuleben. Die Zeit ihres Lebens auf sie ausgeübte Dominanz überträgt sie auf ihr einziges Refugium, ihre Arbeit, wo sie als strenge, kalte Regentin die Zügel in der Hand hält. Die unterdrückte Sexualität findet nur verborgen statt. Im Voyeurismus, in Selbstverstümmelung, fern jedem zwischenmenschlichen Kontakt. Bis Walter in ihr Leben tritt, die krankhafte Ordnung durcheinander bringt und eine Spirale auslöst, über die sie bald jede Kontrolle verliert.

 

Mutti hat jetzt Sendepause, na endlich.

Sexualität ist für Erika bis dahin nur Eskapismus, im kleinen Rahmen. Nicht eine Flucht vor der Realität per se, sondern aus ihrem eigenen Mikrokosmos, dem Gefängnis ihrer Mutter, der nicht existenten Individualität. Direkter Kontakt ist nicht möglich, nicht nur durch die „behütende“ Hand der Mama, sondern auch durch die seelische Mauer, die sich um sie herum gebildet hat. Das Bemühen ihres wesentlich jüngeren Studenten um sie wirkt erst verstörend, bis sich die aufgestaute Energie entlädt. Erika hat erstmals die Zügel in der Hand, aktiv statt passiv, dreht den Spieß um. Doch versteht sie nicht, die Kontrolle zu behalten, wie auch? Die hatte sie nie, wurde immer fremdbestimmt, entmündigt. Ein „normaler“ Umgang mit Gefühlen wurde nie erlernt. All die krankhaften, extremen Vorstellungen der letzten Jahrzehnte kommen zum Ausdruck. Ein devotes, sado-masochistisches Verhältnis entsteht, sie verliert die kurz gewonnene Kontrolle schnell wieder aus der Hand und findet die ursprünglich gewünschte Erfüllung, die sich als Albtraum offenbart. Ihr Verständnis von Liebe, ihre unerfüllten Sehnsüchte stellen sich als fatales Trümmerfeld heraus, dem sie letztendlich zum Opfer fällt. So schmerzhaft verständlich, logisch und schrecklich real, das es weh tut.
Haneke ist der perfekte Regisseur dafür und Isabelle Huppert die perfekte Darstellerin. Ihre gebrochene Figur wird nie überzogen odar gar lächerlich, sondern bedrückend glaubhaft und detailliert von ihr verkörpert. Das ist mindestens so schwierig, wie diesen Stoff als Film zu realisieren. Zumindest als einen Film, den man ernst nehmen kann und muss. Einen Film, der nicht mehr zeigt als er muss und dennoch das Gefühl hinterlässt, als hätte man gerade etwas furchtbar grausames und trotzdem (oder deshalb) sehr menschliches gesehen. Der einen mal wieder erschlagen und bedrückt zurück lässt und lange, lange nachwirken wird. Ein Haneke. Furchtbar gut.
8,5 von 10 Briefen mit pikantem Inhalt.