Review: DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN - Gegensätze ziehen sich an

Review: DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN - Gegensätze ziehen sich an
Fakten:
Der Geschmack von Rost und Knochen (De rouille et d’os)
Frankreich, Belgien. 2012. Regie: Jacques Audiard. Buch: Jacques Audiard, Craig Davidson, Thomas Bidegain. Mit: Matthias Schoenaerts, Marion Cotillard, Armand Verdure, Céline Sallette, Corinne Masiero, Bouli Lanners, Jean-Michel Correia, Mourad Frarema, Yannick Choirat, Océane Cartia, Irina Coito u.a. Länge: 127 Minuten. FSK: freigegeben ab 12 Jahren. Ab 19. Juli 2013 auf DVD und Blu-ray erhältlich.

Story:
Stéphanie arbeitet in einem Erlebnispark als Dompteurin von Orkas. Bei einem Arbeitsunfall verliert sie ihre Beine, was sie ihrer Lebenslustberaubt. Ali arbeitet als Türsteher und Schläger und versucht so Geld für ein besseres Leben zu verdienen. Als er Stéphanie kennen lernt entsteht eine ganz besondere Beziehung zwischen den beiden.


Meinung:
Würde man sich der gelösten Grundhandlung von »Der Geschmack von Rost und Knochen« ohne jeglichen Hintergrundwissen annehmen, so würde man als Leser schnell die voreilige Vermutung aufstellen, dass man es hier mal wieder mit einem überspannten wie klischeedurchtränkten Ausflug in die melodramatischen Tiefen zu tun bekommt. Es geht schließlich um den alleinerziehenden Vater Ali, der einen Job als Security antritt, dann aber irgendwann herausfindet, dass er sein Geld auch mit Schlägereien verdienen kann, während er Frauen nur als Betthasen benutzt und seinem Kind nie die Aufmerksamkeit schenkt, die es eigentlich verdient hätte. Auf der anderen Seite steht die Orca-Trainerin Stéphanie, die nach einem schrecklichen Arbeitsunfall in ihrem Freizeitpark mit einem Wal ihre Beine verliert. Danach folgen die üblichen Abläufe, die Beiden lernen sich immer besser kennen, es gibt Höhen und Tiefen, es wird Lachen und Weinen und man wächst immer weiter zusammen.

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Zärtliche Augenblicken

Wer nun gelangweilt mit den Schultern zuckt, der hat vorerst nicht ganz Unrecht. Das klingt alles nicht wirklich mitreißend, die Versatzstücke kennt man – egal in welche Richtung man blickt – in dieser oder ähnlicher Form aus unzähligen weiteren Filmen. Wenn ein Regisseur es also schafft, eine auf dem Papier vollkommen ausgelutscht und reizlos erscheinende Liebesgeschichte zu einer emotionalen Achterbahnfahrt zu inszenieren, dann kann man wohl als Betrachter mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Regisseur – im Gegensatz zu vielen anderen – sein Handwerk mit vehementer Kompetenz beherrscht. In diesem Fall war es mal wieder der großartige Jacques Audiard, eines der modernen Glanzlichter des französischen Kinos, der das Drehbuch mit der maximal durchschnittlichen Handlung zu einem echten Erlebnis konvertierte.

Das Schöne dabei ist: Die Zeichnung der Charaktere ist zum Glück nicht im Ansatz so eindimensional, wie sie in der kleinen Synopsis den Anschein erwecken und entfalten im Laufe des Filmes ein mannigfaches Gerüst aus Stärken und Schwächen, ohne sich letztlich doch problemlos auf einem Bierdeckel zusammentragen zu lassen. »Der Geschmack von Rost und Knochen« besticht dabei durch seine konträre Gegenüberstellung von Stéphanie und Ali. Zwei vollkommen verschiedene Menschen, die sich in ihren Problemen gegenseitig anziehen, die sich in den schweren Stunden den nötigen Halt geben, um nicht vollkommen abzutauchen. Während Stéphanie einen Menschen sucht, dem sie sich anvertrauen kann, der für sie eine zwischenmenschliche Stütze darstellt, ist Ali ein verantwortungsloser Draufgänger, der nicht viel von intimen Gesprächen hält und Frauen lieber auf ihre physischen Vorzüge degradiert, sich nicht selten wie ein riesiges Arschloch benimmt und seiner vorbildlichen Vaterrolle nie wirklich gerecht wird.

Das klingt nun aber auch noch nicht wirklich nach einem beeindruckenden Meisterwerk und lässt die alten Kamellen vom Bad Boy mit dem weichen Kern langsam aufkochen. Und auch in diesem Punkt verfehlen diese Vermutungen nicht wirklich ihr Ziel. »Der Geschmack von Rost und Knochen« führt dem Zuschauer aber mal wieder eindrucksvoll vor Augen, dass es in einem Film nicht nur darum gehen, mit innovativen Erleuchtungen hausieren zu gehen und gezwungen jedem noch so kleinen Klischee aus dem Weg zu gehen. Es ist eben letzten Endes belanglos, ob in einem Film Klischees vorhanden sind - das Leben ist eine reinste Ansammlung von Klischees – es geht nur darum, wie man diese Klischees ein- und umsetzt, und wie man so etwas in leibeigener Brillanz vollzieht, beweist Jacques Audiard in seiner ganzen Qualität. Daraus entsteht eine Charakterzeichnung, die sich nie in klaren Bahnen bewegen möchte und genau die Ambivalenz behält, die solche Charaktere besitzen müssen, um sich von einem Schablonenstatus zu lösen und ein fühlbares Eigenleben zu entwickeln.

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Marion Cotillard übt für ihre Rolle als "Supergirl"


Das tun die Figuren in »Der Geschmack von Rost und Knochen«: Sie leben, atmen, fühlen und werden einfach von einer authentischen Intensität getragen, die dem Film genau die Sogwirkung verleiht, die den Zuschauer von Minute zu Minute tiefer in das Geschehen zieht, ohne den Anschein zu erwecken, dass er hier ab einem bestimmten Punkt an der Nase herumgeführt wird und es mit gekünstelten Aushängeschildern für Pseudo-Tiefe zu tun bekommt. »Der Geschmack von Rost und Knochen« lebt voll und ganz von seinen Charakteren, die natürlich brillant von Marion Cotillard und Matthias Schoenaerts verkörpert wurden, und entfacht dadurch die Emotionalität, die selbst kleinen Augenblicken eine impulsive Wucht der ganz besonderen Sorte verleiht. Da sind gesellschaftskritische Subtexte von Lohnabhängigkeit nur noch nebensächliche Nuancen. Hier geht es um Menschen, um Gefühle, um gestrandete Seelen, die zum erneuten Wellenritt ansetzen.
In der letzten, abschließenden Szene macht es sich Audiard tatsächlich etwas zu leicht, gerade nachdem er einen der eindringlichsten Augenblicke des Filmes entfaltet hat. Doch auch das ist schließlich ohne gravierende Bedeutung, denn wenn der Abspann einsetzt, man dieses unvergleichliche Gefühl genießen darf und langsam Stück für Stück realisiert, einen der wohl reellsten Liebesfilme der letzten Jahre gesehen zu haben, OHNE dass dieser sich auf die Liebe an und für sich versteift, dann weiß man, dass Audiard großes, humanistisches Kino abgeliefert hat, in dem er erneut bewiesen hat, mit welcher Klasse er die affektierten Schachzüge spielen kann, ohne zu manipulieren und den Zuschauer zur Marionette zu formen. Ob einprägsames Sozial-Drama oder kraftvolle Liebesgeschichte, in der die universellen Feinheiten den Unterschied machen. »Der Geschmack von Rost und Knochen« funktioniert ohne Selbstzweckmechanismen und ist durchgehend fortwährend einzig und allein an seinen Charakteren interessiert. So und nicht anders muss es sein.

8,5 von 10 Einbrüche ins Eis

von souli


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