Fakten:90 Grad NordBRD, 2015. Regie & Buch: Detsky Graffam. Mit: Carsten Clemens, Stefan Dietrich, Jürgen Haug, Ecco Mylla, Sam Graffam. Länge: ca. 21 Minuten. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.
Story:Einem gestressten Geschäftsmann geht irgendwo im Nirgendwo das Benzin aus. Auf einer kleinen Verkehrsinsel einer offenbar wenig befahrenen Landstraße trifft er auf Leidensgenossen. Als einer regelwidrig trotz roter Ampel die Straße überqueren will, zeigt die Verkehrsinsel ihr wahres Gesicht und fletscht die…Zähne?!
Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht. Und wenn, dann sicher nur im stringent regulierten und immer zuverlässigen Schilder- und Regelwald Deutschland, wo man noch beruhigt die Straße überqueren kann ohne Gefahr zu laufen, von einem rechtsüberholenden, am Steuer telefonierenden, nicht mit einem gültigen Erste-Hilfe-Kasten, akkuraten Warndreieck und mindestens vier reflektierenden Westen ausgestatteten Rowdy überfahren zu werden. Wer schon mal in der direkten Nachbarschaft im Urlaub war und beinah den Tot beim Brötchenholen gefunden hätte, weiß unsere manchmal spießiges, aber immer korrektes, sicheres Einmaleins im Straßenverkehr sicher zu schätzen (in Dänemark einen Zebrastreifen mit blauäugigem, germanischen Selbstverständnis einfach so mitnehmen, mutig bis lebensmüde). In jedem anderen Land der Welt könnte die „Creature“ von „90 Grad Nord“ nicht existieren. Entweder würde sie an Übergewicht tragisch zu Grunde gehen oder sich gar nicht entsprechend auf die Beute konzentrieren, den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen können. Deutschland macht satt, aber nicht fett. Würden sich organisch ernährende Verkehrsinseln eine Bikini-Figur nötig haben, dann hier. Ist es vielleicht so…?
Bei Rot stehen, bei Grün gehen. Easy, oder?
„90 Grad Nord“ ist eine Perle des deutschen (Genre) Kurz-Films, der mit seiner kurios-brillanten Idee, dem bösen, hervorragend getimten Humor und seinem satirischen Blick wirkt wie eine Mischung aus „Monty Phyton“-Sketch und den frühen Werken von Leuten wie Sam Raimi, Peter Jackson oder Álex de la Iglesia. Für Regisseur und Autor Detsky Graffam ein Herzensprojekt. In den knapp 21 Minuten steckten jahrelange harte Arbeit, doch es hat sich gelohnt. Auf etlichen Festivals quer über die Welt lief sein Film im Wettbewerb und konnte einige Preise einheimsen, ließ sogar im Vorfeld deutlich favorisierte Konkurrenten hinter sich. Das muss nicht immer wirklich für einen qualitativ hochwertigen Film sprechen – Festivals und Preisverleihungen gibt es wie Sand am Meer und deren Sieger sprechen mitunter nur eine ganz spezielle Fanbase an -, „90 Grad Nord“ hingegen ist in jeder Sekunde ein kleines Masterpiece. Die Krux bei solchen Produktionen ist natürlich immer die Diskrepanz zwischen Anspruch und Umsetzung. Man kann noch so schöne Ideen und Illusionen haben, wenn die Möglichkeiten nicht gegeben sind, Zeit und Geld begrenzt, müssen irgendwo Abstriche gemacht werden. Bei diesem Film hat man als Zuschauer nie das Gefühl, dass irgendetwas nicht genau so sein sollte (obwohl es wahrscheinlich trotzdem der Fall sein wird), dass exakt das geistige Auge wiedergegeben wurde.Das kommt dem Resultat natürlich nur zu Gute und wenn improvisiert wurde, dann auf professionelle, nicht ersichtliche Art und Weise. Dies ist nicht nur von seinem Inhalt ein verdammt guter Film, er präsentiert sich auch noch unverschämt großartig. Von seinen Einstellungen, dem Cast, dem Sounddesign bis hin zu den verblüffend geglückten Special Effects. Aber selbst wenn es nicht so wäre, die Prämisse ist schon so grotesk und gleichzeitig genial, selbst mit einer Husch-Husch-wird-schon-Einstellung wäre das mindestens ein nettes, sympathisches Ding geworden. In der Kombination ist etwas ganz Außergewöhnliches, Besonderes entstanden. Eine beißende – eher schon gefräßige – Satire, mit wunderbaren Einfällen und dieser Mischung aus kindlicher und doch reifer, klug reflektierter Verrücktheit, die man nicht alle Tage zu sehen bekommt. Ein Pfundskerl von einem Kurzfilm mit ganz viel Herz, Leidenschaft. Insgesamt: Der bessere „Castaway – Verschollen“, ohne Wilson und penetrantem Product Placement. Geheimtipp des Monats, wenn nicht des Jahres.
„Also wenn das vorbei ist, dann gehe ich sofort zum Ordnungsamt!“
8,5 von 10 roten Wellen