“Junge Welt”, 28.08.2012
Analyse. Imperialismus und Krise – Teil I: Die Rückkehr nationaler Machtkämpfe im Gefolge der ökonomischen Verwerfungen
Europa scheint seit Krisenausbruch in einem Zeitstrudel gefangen, der den alten Kontinent in eine Vergangenheit zurückschleudert, in der das imperiale Hegemoniestreben der europäischen Großmächte die nationalen Gegensätze und Chauvinismen ungefiltert aufeinanderprallen ließ. Je weiter die Krise die Desintegrationstendenzen in der Euro-Zone befeuert, desto eher scheint der Blick in die Geschichtsbücher dabei behilflich zu sein, Analogien zu den gegenwärtig rapide eskalierenden nationalen Gegensätzen – die längst zu einer offenen Lagerbildung in Europa geführt haben – zu finden. Die Mitte August absolvierte Rundreise des deutschen Wirtschaftsministers Philipp Rösler durch einige nordeuropäische Euro-Länder, bei der offensichtlich eine Allianz gegen die südeuropäischen Krisenstaaten geschmiedet werden sollte, erinnert ebenso an die klassische imperialistische Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts wie die mit der Krisenintensität zunehmenden chauvinistischen Aufwallungen in vielen Ländern der Euro-Zone.
Röslers diplomatischer Staffellauf, der den im Vorwahlkampf befindlichen Wirtschaftsminister nach Helsinki, Tallinn, Den Haag und Warschau führte, galt dem Europa, das sich der »Idee der Stabilitätsunion« verpflichtet fühle und somit immer noch eine »Union der Werte« darstelle, dozierte Rösler nach einem Treffen mit dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte. Hierbei erlaubte sich der deutsche jungliberale Wirtschaftsminister einen klassischen rhetorischen Ausrutscher, der die wahre Motivation hinter seiner hektischen Reisediplomatie offenlegte. Deutschland habe bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Krisenpolitik »die Kraft der Argumente« auf seiner Seite und stehe in Europa »nicht gänzlich allein« dar. Diese laut Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ungewollt »defätistische« Aussage spiegele die »Regieanweisungen« bei der Rundreise Röslers wieder: »Wir zeigen, daß Deutschland nicht isoliert ist in Europa, es gibt viele Verbündete.« Die FAZ spekulierte sogar darüber, ob Rösler mit seiner Reisediplomatie bereits den Boden für einen »Nord-Euro« bereite, der nach dem Zerfall der Euro-Zone eingeführt werden könnte.
Paris kontra Berlin
Gegen wen sich diese diplomatische Sommertournee des Wirtschaftsministers richtete, der damit auch innenpolitisch zu punkten hofft, ist ohnehin klar: Seit dem Amtsantritt des neuen französischen Präsidenten François Hollande hat Paris einen deutlichen machtpolitischen Kurswechsel eingeleitet und die unter seinem Amtsvorgänger Sarkozy praktizierte Kollaboration mit Berlin zugunsten einer antideutschen Allianz mit Südeuropa aufgegeben. Dem Spardiktat, das Berlin in Gestalt des »Fiskalpaktes« der Euro-Zone oktroyierte, setzt Hollande eine klassisch sozialdemokratische Politik entgegen, bei der Steuererhöhungen für Wohlhabende mit kreditfinanzierten Konjunkturpaketen und Maßnahmen zur Stärkung der Massennachfrage einhergehen sollen.
Auf europäischer Ebene unterstützt Paris die südeuropäischen Forderungen nach einer Einführung von Euro-Bonds und massiven Anleiheaufkäufen seitens der Europäischen Zentralbank (EZB), um so die Zinslast der Krisenstaaten zu senken. Folglich spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen der südlichen Peripherie der EU und Berlin immer stärker zu, da die Bundesregierung tatsächlich all die Maßnahmen blockiert, die den in Rezession befindlichen Ländern Südeuropas eine Linderung verschaffen könnten.
Der deutsch-französische Antagonismus, der den Kontinent in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entlang des Rheingrabens in feindliche Mächtekonstellationen teilte, scheint sich erneut in der gegenwärtigen geopolitischen Lage zu materialisieren. Ein vom sozioökonomischen Abstieg bedrohtes mit Frankreich verbündetes Südeuropa sieht sich einem ökonomisch ungemein erstarkten Deutschland gegenüber, das sich unter Rückgriff auf seine osteuropäische Peripherie bemüht, seine dominante Stellung vermittels eiligst umgesetzter Strukturänderungen der EU zu zementieren.
Offene Konfrontation
Diese inzwischen offen ausgetragenen nationalen Machtkämpfe, die eine entsprechend hetzerische Berichterstattung in der jeweiligen bürgerlichen Presse nach sich ziehen, haben zudem eine Renaissance nationalistischer Ressentiments und chauvinistischer Stimmungen eingeleitet. Wie weit hierbei der Weg zurück in die Vergangenheit bereits beschritten wurde, ist beispielsweise bei den ungehemmten öffentlichen Pöbeleien deutlich geworden, mit denen sich deutsche und italienische Politiker sowie Medien wechselseitig Anfang August überzogen, nachdem der italienische Ministerpräsident Monti relativ unverblümt ein Ende der deutschen Blockadepolitik forderte. Während Koalitionspolitiker in Berlin daraufhin den italienischen Regierungschef der »Gier nach deutschen Steuergeldern« bezichtigten und ihn beschuldigten, »seine Probleme auf Kosten des deutschen Steuerzahlers lösen« zu wollen, empörten sich italienische Blätter über die »Nazideutschen«, die nun »nicht mehr mit Kanonen, sondern mit Euro« Italien unterwerfen wollten.
Äußerungen, die noch vor wenigen Monaten ein Verfahren wegen Volksverhetzung nach sich gezogen hätten, dienen nun FDP-Einheizern und CSU-Populisten dazu, ihre Wahlchancen aufzubessern. Bevor geklärt werden kann, warum dieser ungezügelte Nationalismus das europäische Pathos so schnell verdrängen konnte, soll kurz rekapituliert werden, wieso in den vergangenen Dekaden die Illusion der kapitalistischen »Vereinigten Staaten von Europa« überhaupt um sich greifen konnte.
Nach der Niederschlagung des massenmörderischen Weltherrschaftsstrebens des deutschen Faschismus – in dessen historisch beispielloser Barbarei die rund fünfhundertjährige Geschichte der europäischen Hegemonialkämpfe kulminierte – ließ der Kalte Krieg keinen Raum mehr für innereuropäische Rivalitäten. Die europäischen Mächte mußten unter der eindeutigen Hegemonie der Vereinigten Staaten ihr militärisches und ökonomisches Potential in die von Washington ausgearbeitete antisowjetische Strategie einbringen, was eine eigenständige, mit zunehmenden imperialen Friktionen einhergehende Machtpolitik der europäischen Mächte spätestens seit der Suezkrise 1956 illusionär machte. Unter dem Druck der Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Lager, die eine stärkere Kooperation und Koordinierung der kapitalistischen Großmächte erzwang, konnte erst die Idee der Europäischen Union reifen und Gestalt annehmen.
Die Implosion des real existierenden Sozialismus brachte die Frage der deutschen »Wiedervereinigung« auf die Tagesordnung, die ja bekanntlich auf französisches Drängen nur unter der Verpflichtung Berlins zur Einführung des Euro ermöglicht wurde. Mittels der engen europäischen Einbindung sollten deutsche Alleingänge und Hegemonialstreben unterbunden werden. Zugleich wandelte sich mit dem Verschwinden der staatssozialistischen Gegenmacht der Charakter der Europäischen Union, die nun dazu überging, die militärischen und organisatorischen Voraussetzungen imperialistischer Politik zu schaffen. Zudem intervenierten EU-Mächte seit den 90er Jahren in wechselnden organisatorischen Konstellationen (NATO oder UNO) bei einer Vielzahl von Konflikten, die zumeist aus der Implosion staatlicher Strukturen im postsozialistischen Raum oder im Trikont resultierten (Jugoslawien, Somalia).
Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes kehrte somit der Imperialismus nach Europa zurück, aber es war ein nach »außen« gerichtetes imperiales Streben, von dem die binneneuropäischen Machtkonstellationen – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – verschont blieben. Im Gegenteil schien es so, als ob die Desintegrationstendenzen außerhalb der EU mit einem beständig zunehmenden Expansions- und Integrationsbestreben der Europäischen Union kontrastieren würden. Neben der ins postsozialistische Osteuropa gerichteten Expansion der EU, die mit der neoimperialistischen Intervention im zerfallenden Jugoslawien einherging, trat ab den 90ern auch verstärkt die Konkurrenz »Europas« gegenüber den USA zutage. Das vereinigte ökonomische und militärische Potential der Europäer sollte die ohnehin schwindende Hegemonie der USA herausfordern, der Euro den US-Dollar als Weltleitwährung beerben. Exemplarisch wurde dieser Anspruch im März 2001 formuliert, als die EU postulierte, bis 2010 »zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt« aufsteigen zu wollen.
Dominanz durch Export
Entscheidend für die binneneuropäische Machtkonstellation in der gegenwärtigen Krise war aber die Strategie, die Deutschlands Funktionalisten aus Staat und Kapital in Reaktion auf die verordnete europäische Integration forcierten. Berlin nutzte den Euro, der eigentlich den deutschen Hegemoniebestrebungen ein Ende setzten sollte, um die dominante Stellung in Europa zu erringen. Diese Strategie wurde auf dem Rücken der Lohnabhängigen in der BRD umgesetzt, wobei die wichtigsten diesbezüglichen »Reformen« von der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer eingefädelt wurden. Zum einen führte Rot-Grün kurz vor der Euro-Einführung eine Steuerreform durch, bei der vor allem Unternehmen bzw. Konzerne massiv entlastet wurden – und die somit über Steuervorteile und eine prall gefüllte »Kriegskasse« am Vorabend der Währungsunion verfügten. Zum anderen hatten die von Rot-Grün verabschiedeten Hartz-IV-Arbeitsgesetze eine massive Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und einen Einbruch des Reallohnniveaus in Deutschland zur Folge. Die avancierte deutsche Industrie, die ohnehin einen Produktivitätsvorsprung gegenüber den südlichen Euro-Ländern aufwies, konnte so erhebliche Konkurrenzvorteile verbuchen, die es ihr ermöglichten, die Konkurrenz in der Euro-Zone in vielen Branchen zu marginalisieren – während in der BRD Prekarisierung, Hungerlohn und brutale Arbeitshetze zur Normalität für einen großen Teil der Lohnabhängigen wurden.
Diese auf extreme Exportfixierung ausgerichtete Strategie wurde erst durch den Euro durchsetzbar, der den betroffenen Staaten die Möglichkeit nahm, mit Währungsabwertungen auf die Offensiven des deutschen Kapitals zu reagieren. Bei der quantitativen Einschätzung des Erfolgs dieser totalen Konkurrenzausrichtung der deutschen Industrie sind nicht die Ausfuhren, sondern die Exportüberschüsse entscheidend, die sich in den seit Einführung der Gemeinschaftswährung explodierenden Leistungsbilanzüberschüssen Deutschlands gegenüber dem Rest der Euro-Zone manifestierten. Diese belaufen sich auf inzwischen rund 850 Milliarden Euro. Ihnen entsprechen Defizite auf seiten der betroffenen Euro-Länder, sodaß die Exportoffensiven der BRD zur Ausbildung des europäischen Schuldenbergs maßgeblich beigetragen haben.
Seit dem Ende des »Kalten Krieges« verlagerten sich die innereuropäischen Rivalitäten somit auf die wirtschaftliche Ebene, und die BRD konnte diesen Wirtschaftskrieg eindeutig für sich entscheiden. Berlin verfügt dank Steuerdumping und Hungerlöhnen über eine konkurrenzlos günstig produzierende, hochnmoderne Industrie, während die von der deutschen Exportdampfwalze geplätteten Länder Südeuropas dem Schicksal Osteuropas folgen – und zu einer Peripherie Deutschlands zugerichtet werden sollen. Insofern war Schröders Agenda 2010 tatsächlich sehr erfolgreich. Merkels wiederholt geäußerte Forderungen nach der Beschneidung von Souveränitätsrechten der europäischen Krisenstaaten belegen zudem, daß die Warnungen italienischer Medien vor einem deutschen »4. Reich« nicht aus der Luft gegriffen sind. Berlin will bei der Errichtung seines »deutschen Europa« Brüssel zu einem Machtmittel seiner Politik umgestalten.
Schließlich ist die Bundesregierung bemüht, die gegenwärtige ökonomische Krisenkonstellation möglichst lange aufrechtzuerhalten: Während das mit dem deutschen »Fiskalpakt« einhergehende Spardiktat den Großteil der Euro-Zone in eine Rezession abdriften läßt und so den ökonomischen Abstand zu Deutschland vergrößert, profitiert die hiesige Exportindustrie von dem krisenbedingt niedrigen Kurs der Gemeinschaftswährung, weswegen die deutschen Ausfuhren jenseits der Euro-Zone enorm zulegen (hier vor allem nach Südostasien und China) und die Absatzeinbrüche in Europa kompensieren konnten. Zudem wurde die BRD auf den Finanzmärkten zu einem »sicheren Hafen«, so daß die unerträglich hohe Zinslast Südeuropas sich in Nullzinsen für deutsche Staatsanleihen materialisierte. Den deutschen Funktionalisten scheinen alle Optionen offenzustehen: Entweder eine Hegemonie in der Euro-Zone oder die offenbar von Rösler propagierte Neuformierung eines von der BRD angeführten dominanten Machtblocks.
Katastrophale Folgen
Dennoch stellt die gegenwärtige Situation in der Euro-Zone, bei der Deutschland als der klassische »Krisengewinner« erscheint, eine Illusion dar, die nur unter Ausblendung des grundlegenden Krisenprozesses kapitalistischer Warenproduktion – bei dem die vom Kapitalismus entfachten Produktivkräfte die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengen – überhaupt aufkommen kann. Die Bestrebungen zur europäischen Einigung wie auch die gegenwärtigen Desintergationstendenzen sind nicht nur auf das geopolitische Kalkül einiger Großmächte zurückzuführen – sie bilden vor allem Reaktionen auf die von dem Marxisten Robert Kurz beschriebene innere Schranke kapitalistischer Warenproduktion.
Spätestens mit den in den 80er Jahren einsetzenden Rationalisierungsschüben der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik findet eine massive Verdrängung von Lohnarbeit in der Warenproduktion statt. Dieser autodestruktive Prozeß des Kapitals, das sich mit der Lohnarbeit seiner eigenen Substanz entledigt, äußert sich in einer fundamentalen Krise der Arbeitsgesellschaft, in chronischer Überakkumulation, dem Aufstieg des Finanzsektors und einer gnadenlosen Verdrängungskonkurrenz. Die Euro-Krise bildet dabei nur das jüngste Stadium eines langwierigen Krisenprozesses, bei dem eine beständig zunehmende Verschuldungsdynamik die zusätzliche Nachfrage erzeugte, um eine hyperproduktive und vom permanenten Verdrängungswettbewerb gekennzeichnete Warenproduktion überhaupt noch aufrechtzuerhalten. (siehe jW-Thema vom 14.1.2012).
Das »Europäische Haus« war auf einem beständig wachsenden Schuldenberg errichtet worden, der nun einzustürzen droht. Es wird im Ausgang dieser Krise somit keine »Gewinner«, sondern nur »Verlierer« im europäischen Machtkampf geben. Die Illusion einer intakten kapitalistischen Arbeitswelt in der BRD und die Verschuldungsprozesse in den Zielländern der deutschen Exportoffensiven bedingen einander. Allein 2011 hat die Bundesrepublik einen exzessiven Leistungsbilanzüberschuß von 5,7 Prozent seines BIP erzielt, der viel höher als in China (2,8 Prozent) oder Japan (2,0 Pozent) ausfiel. Somit ist aber die BRD ihrerseits abhängig von den diesem Leistungsbilanzüberschuß korrespondierenden Verschuldungsprozessen, ohne die Deutschlands Exportmärkte einbrechen werden. Die auch von bürgerlicher Seite beklagten zunehmenden »Ungleichgewichte« in der Weltwirtschaft sind ja nur Ausdruck zunehmender Verschuldungsprozesse. Deswegen untergräbt Berlin mit seinem Spardiktat in Europa seine eigenen Absatzmärkte, was letztlich auch die scheinbare europäische Hegemonialmacht in den Abgrund ziehen wird. Selbst die besagte Neuausrichtung der deutschen Exportdampfwalze auf außereuropäische Märkte wird bald keine Vorteile mehr einbringen, da die Sparpolitik in Europa diese Regionen immer stärker in Mitleidenschaft zieht.
Die Systemkrise hat somit die Länder Europas tatsächlich in einer »Schuldenunion« aneinandergekettet – ein Zusammenbruch der Euro-Zone wird sowohl für Südeuropa wie für die BRD katastrophale wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen. Das Zeitalter der ökonomisch eigenständig überlebensfähigen Volkswirtschaften ist längst in der Dynamik der krisenbedingten kapitalistischen Globalisierung verschütt gegangen. Hieraus resultieren die heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen »Eliten« zwischen den Verfechtern eines Ausscheidens der BRD aus der Euro-Zone, die etwa bei der FAZ immer wieder Gehör finden, und den Befürwortern einer deutsch dominierten EU. Beide Wege führen letztendlich in die durch die Systemkrise bedingte Sackgasse: Die EU kann ihre Existenz nur als »Schuldenunion« vermittels weiterer Verschuldungsprozesse und Finanztransfers bis zum späteren Kollaps verlängern, während eine Rückkehr zum Nationalstaat einem sofortigen ökonomischen Selbstmord gleichkäme. Weder Nation noch EU weisen einen Ausweg aus der Krise, da beide Gebilde von dem in Selbstzerstörung befindlichen Kapitalverhältnis hervorgebracht wurden.
Die binneneuropäischen Auseinandersetzungen um die richtige Krisenpolitik, bei der die französischen und südeuropäischen Keynesianer gegen den deutschen Sparwahn Sturm laufen, spiegeln somit eine fundamentale Aporie kapitalistischer Krisenpolitik, bei der die politische Kaste nur zwischen zwei Wegen in die Krise wählen kann: Entweder führt Sparpolitik zu einer sofortigen Rezession wie in Griechenland oder Spanien, oder die Krise wird weiter verschleppt durch fortdauernde Verschuldung und Gelddruckerei (dies geschieht derzeit in den USA). Letztendlich lassen sich die eskalierenden nationalen Gegensätze bezüglich der Krisenpolitik in Europa auf diese grundlegende Ausweglosigkeit zurückverfolgen. In den kommenden Wochen nach der Sommerpause wird sich entscheiden, ob Berlin seine Blockadehaltung aufgibt und einer weiteren Defizitfinanzierung »Europas« zustimmt – andernfalls wird die Euro-Zone das Jahr 2013 zumindest in der gegebenen Zusammensetzung nicht mehr erleben. Ähnlich der Scheinalternative zwischen EU und Nation bietet aber keine der genannten Optionen einen Ausweg aus der Krise, der nur unter radikaler Negation der grundlegenden Kategorien kapitalistischer Vergesellschaftung (Lohnarbeit, Geld, Nation etc.) zu finden wäre.
Die eingangs konstatierte Wiederkehr offener nationaler Gegensätze in Europa bildet dabei nur ein Durchgangsstadium der zunehmenden krisenbedingten Barbarisierung des Kapitalismus. Deutschland wird keine stabile Hegemonie in Europa errichten können, da es hierzu der Rücksicht auf die Interessen der wichtigsten europäischen Mächte – die eine deutsche Hegemonie so auch hinnehmen könnten – bedürfte. Dies passiert aber gerade nicht; die Bundesrepublik befindet sich in einer Position der Dominanz, die europaweit nicht akzeptiert wird, da die Grundlagen dieser deutschen Dominanz (Leistungsbilanzüberschüsse und Spardiktat) den ökonomischen Zerfall in Südeuropa befördern. Die BRD wird somit gerade nicht zu den vielzitierten »USA Europas«, die ihre Hegemonie auf den Nachkriegsboom errichten konnten.
Dynamik der Selbstzerstörung
Seit Ausbruch der Euro-Krise und dem Kappen der Verschuldungsdynamik in Europa findet ein binneneuropäischer Überlebenskampf zwischen den Euro-Staaten statt, bei dem die wirtschaftlich unterlegenen Länder einen dauerhaften sozioökonomischen Abstieg erleben. Diese nationalen Machtkämpfe realisieren die Folgen des Krisenprozesses, der sich in einem andauernden Prozeß von der Peripherie in die Zentren des kapitalistischen Weltsystems frißt und die »Wohlstandsinseln« der »Ersten Welt« immer weiter abschmelzen läßt. Die »Dritte Welt« rückt mit ihrem Elend immer näher an die Zentren heran und breitet sich nun in Südeuropa aus. Für diese nationalen binneneuropäischen Auseinandersetzungen kann die Allegorie der sinkenden »Titanic« gewählt werden, bei der die Passagiere der ersten Klasse diejenigen der Zweiten und Dritten über Bord werfen, um noch etwas Zeit zu gewinnen – bis sie selbst an die Reihe kommen.
Entscheidend für die antikapitalistische Linke sind somit nicht diese neu aufflammenden nationalen Gegensätze, sondern die vermittels dieser europäischen Machtkämpfe voranschreitende Krisendynamik, die sich nun bereits in den Zentren des Weltsystems voll manifestiert. Der jeglicher volkswirtschaftlichen Basis beraubte Nationalismus wird im Krisenverlauf ideologisch weiter degenerieren und verschiedenen Formen des Separatismus weichen, der bereits in ganz Europa – in der BRD etwa in Gestalt der CSU – einen enormen Aufschwung erfährt. Ein solcher Zusammenbruchs- und Barbarisierungsprozeß bildet somit aufgrund des akkumulierten Zerstörungs- und Vernichtungspotentials eine elementare Bedrohung menschlicher Zivilisation. Es ist letztlich ein Unterschied ums Ganze, ob der Kapitalismus von einer emanzipatorischen Bewegung aktiv überwunden wird oder an seinen eigenen Widersprüchen kollabiert – im letzten Fall würde es sich um eine endgültige, irreversible Niederlage der antikapitalistischen Linken handeln. Die aktive Überwindung des in Selbstzerstörung übergehenden Kapitalismus stellt schlicht eine Überlebensnotwendigkeit der Menschheit dar.