Reisereportagen: Lombok - unter Druck


Nachdem es im ersten Teil um meine wunderbaren Erfahrungen auf Lombok ging, geht es heute um Surferboys, Gewalt, einen Real-Estate-Boom und den Islam auf der Insel. Wie wird der Kulturwandel die Insel verändern?
Reisereportagen: Lombok - unter Druck
Die Surferboys
Die erste Zeit im Homestay war irritierend. Das lag an den Surferboys, die hier mit ihren ausländischen Freundinnen für eine Woche abgestiegen waren. Sie stammten aus Lombok oder waren von Bali aus übergesiedelt. Dort sind die Kuta-Cowboys, die den völlig überlaufenen Kuta Beach bespielen, zu einem bekannten Phänomen geworden. Die Szene in Kuta auf Lombok war wesentlich überschaubarer.
Zunächst sah ich sie jeden Abend in großer Runde zusammensitzen und dachte mir nichts weiter dabei. Zu lauter Musik betranken sie sich in Windeseile. Billiger Reiswein als Getränk der Wahl. Alle teilen sich ein Glas – besser kann man Gruppendruck nicht erzeugen. Jeder wartet auf den nächsten Shot. Ex und hopp. Manchmal besorgen die Frauen Wodka oder Rum. Selten gehören auch Magic-Mushroom-Shakes zum Programm. Danach geht es zu einer der Bars im Ort. Irgendwo wird immer eine Party gefeiert.
Die Jungs arbeiten in Surfshops, verleihen Boards und bieten Touristen ihre Dienste als Surflehrer an, bevorzugt Frauen. In der näheren Umgebung finden sich eine ganze Reihe hervorragender Surfspots. Der Einstieg ist harmlos. Surfen ist für jeden eine intensive Erfahrung. Die Fahrten zu den Buchten sind von Traumkulissen veredelt, die Jungs sind total locker, reißen Witze. Sie kennen die schönsten Ecken der Insel. Am Abend sitzen sie zusammen. Viele Frauen lassen im Rausch alle Hemmungen fallen. Sie fühlen sich begehrt – die Jungs sind echte Männer. Viele sind tätowiert. Sie sind Outlaws. Tupac bombt aus den Bässen. Nichts erinnert an das Ghetto. Und doch ist ein tiefer Graben spürbar. Einige Jungs haben gelernt, selbst Musik zu produzieren. Stolz präsentieren sie ihre eigenen Kreationen. Es gibt gar eine eigene Hymne für die Reggae-Kultur der Insel: „Lombok I love you“. Die Jungen fahren Skateboard. Die Alten geben sich hart. Jeder verfügt über ein Repertoire flotter Sprüche. Vom knallharten Typen bis zum romantischen Gitarrenspieler ist alles dabei. Die Frauen sitzen fasziniert in der Runde. Hier gibt es das Abenteuer, von dem sie gehört haben. Die Jungs setzen auf Komplimente, dann wieder auf laszive Anzüglichkeiten. Sie haben offenbar eine total lockere Einstellung zum Leben. Man lebt nur einmal. Sie erfüllen den Frauen jeden Wunsch. Im Partyrausch entwickelt sich oft mehr daraus. Manchmal bleibt es beim One-Night-Stand, nicht selten entsteht eine Beziehung für den Urlaub oder noch mehr.
Am Morgen warten wieder die Wellen. Am Abend die nächste Eroberung, die nächste Party, der nächste Rausch. Ein wildes, anstrengendes Leben. Ein schmaler Grat. Das war es, was mich mit ihnen verband. Auch wenn sich mein Drahtseilakt ganz anders ausdrückt. Sie strebten zur westlichen (Sub)Kultur; ich suchte nach dem, was sie hinter sich lassen wollten: einem einfachen, naturnahen Leben.
Gelegentlich folgte ich ihrer Einladung und setzte mich für eine Stunde dazu. So auch an diesem Abend vor einem Surfshop in Kuta. Was dann geschah, ließ mich auf Distanz gehen: Ein schmächtiger Junge tanzte völlig überdreht vor der Gruppe und machte seine Späße. Im nächsten Moment sackte er ohne Körperspannung in sich zusammen. Vermutlich war er völlig betrunken. Ich weiß nicht, ob er zuvor etwas Beleidigendes gesagt hatte. In jedem Fall hatte er die Wut eines finster dreinblickenden Kollegen auf sich gezogen. Der war deutlich älter und kräftemäßig haushoch überlegen. Der Muskulöse rannte auf ihn zu und rammte dem Wehrlosen brutal und mit voller Wucht die Faust ins Gesicht. Der Junge verlor sofort das Bewusstsein. Er blutete wie ein Schwein. Erst nach Minuten kam er wieder langsam zu sich. Der Schlag hätte ihm für immer die Lichter ausblasen können. Es kam zu einem Tumult. Unkontrolliert ergoss sich das Adrenalin. Rudelbildung. Archaische Gewalt lag in der Luft. Blut kochte hoch. Für einige gab es kein Limit. Sie würden sich totschlagen, wenn keiner dazwischenging. Es gab keine Chance für mich, als Außenstehender zu vermitteln. Hätte ich es weiter drauf angelegt, hätte ich nur alle Aggressionen auf mich gelenkt. Mit Mühe konnten die halbwegs Vernünftigen die Schläger davon abhalten, dass alles im Wahn versank. 
Ich hörte fortan immer wieder von Schlägereien. Meistens geht es dabei um Frauen. Denn die Jungs sind nicht so unschuldig, wie es manchmal scheint, wenn sie sich mit Bob-Marley-Floskeln die Zeit vertreiben.
Was als harmloser Spaß mit den Frauen beginnt, entwickelt sich oft zu gegenseitiger Abhängigkeit. Die Frauen kehren wieder, sie machen Geschenke, sie bezahlen Unterkunft, Essen, Alkohol. Sie haben Macht. Sie erzählen ihren Freundinnen von ihren Erlebnissen. Seit es Direktverbindungen aus Australien gibt, kommen manche nur für das Wochenende.
Die Jungs richten sich in diesem Leben ein. Es ist ein Leben im Jetzt. Was morgen ist, scheint egal. Ein Leben, das gierig macht.
Sie werden immer professioneller. Sie holen die Frauen am Flughafen ab, wenn sie wiederkommen. Sie fangen an, gezielt nach Frauen zu suchen, die ihnen dieses Leben ermöglichen. Bald sind es mehrere Frauen. Es wird schwieriger, die Besuche zu koordinieren, es entstehen verschiedene Identitäten. Sie lernen es, sich perfekt auf die jeweilige Frau einzustellen. Sie pflegen die Kontakte über Handy und soziale Netzwerke. Sie stehen in immer stärkerer Konkurrenz zueinander. Die Frauen auch. Zu Hause warten ihre Ehefrauen, mit denen sie häufig viel zu früh verheiratet wurden. Liebe spielte selten eine Rolle. Eine Scheidung würde für beide die gesellschaftliche Ächtung bedeuten.
Das Frauenbild auf der Insel unterscheidet sich massiv von dem, was die Frauen aus der westlichen Welt für sie verkörpern. Die Ehefrauen sind durch Tradition und Religion auf eine Rolle festgelegt, aus der sie kaum ausbrechen können. Sie können es sich gesellschaftlich kaum leisten, auf eine dieser Partys zu gehen. Ich habe nur eine einzige Frau kennen gelernt, die einen ähnlichen Lebenswandel pflegte wie die Jungs.
Die Touristinnen könnten gegensätzlicher kaum sein. Sie fühlen sich wie im Paradies. Sie haben Urlaub und sind auf individuelles Vergnügen aus. Sie können ihre Sexualität ausleben. Sie haben Geld. Sie sind unfassbar frei und selbstbewusst. Entsprechend groß ist ihre Attraktivität.
Den Ehefrauen geht es ganz anders: Sie müssen mitansehen, wie sie betrogen werden und können nichts dagegen tun. Sie erfüllen ihre Pflichten und wissen, dass sich ihre Ehemänner mit anderen Frauen austoben.
Natürlich kann man nicht alle in einen Topf werfen. Manchmal verlieben sich die Jungs tatsächlich. Das Gleiche gilt für die Frauen. Für viele ist es nicht mehr als ein Spiel, andere meinen es ernst. Eines dieser Paare konnte ich kennen lernen:
Sie kannte die Schattenseiten ganz genau. Sie war schon lange mit ihm zusammen. Sie hatte sich immer wieder erweichen lassen, immer neues Geld geliehen, Seitensprünge verziehen, neues Vertrauen geschenkt.
Auch er versuchte das Unmögliche – das Leben als Gigolo an den Nagel zu hängen. Zumindest ein Teil von ihm. Der andere sabotierte jeden Versuch. Es war unendlich schwer. Schließlich gab ihm die Gruppe Halt. In gewisser Weise war sie seine Familie, in der klare Hierarchien herrschen. Da gibt es keinen leichten Weg heraus. Er war kein schlechter Mensch. Ich fand ihn sogar sehr sympathisch, wissend, dass zwei sehr gegensätzliche Seiten in ihm steckten. Ich konnte beide verstehen. Er war so sozialisiert worden. Die Versuchungen lauerten überall: falsche Freunde, Drogen, Provokationen, Ex-Freundinnen, die sich nehmen was sie wollen. Die wissen, wie man manipuliert.
Daraus entstand eine Beziehung voller Extreme: furchtbare Enttäuschungen, bedingungslose Liebe, Zweifel, Wut, Hass, Trauer, Schmerz. Ich sprach viel mit ihr. Ich bewunderte ihren unbedingten Willen und die Kraft, wiederkehrende Enttäuschungen und Misstrauen auszuhalten und ihm immer wieder zu verzeihen; doch genauso unverständlich erschien mir, warum sie an ihm festhielt, nachdem er ihr so viel Schmerz zugefügt hatte. Hatte sie nicht etwas Besseres verdient? Aber sie liebte ihn.
Sie war seine Chance auf ein anderes Leben. Das jetzige würde er nicht mehr lange durchhalten können. Beide wurden ständig über ihre Grenzen hinausgeführt. Auch sie tat ihm weh. Manchmal waren beide richtig glücklich, doch oft befanden sie sich in einer sadomasochistischen Beziehung, die sie beide kaputt machte. Ruhephasen kannten sie kaum. Es ging vom Himmel in die Hölle und wieder zurück. Noch immer kämpfen sie – wer weiß, ob sie dafür belohnt werden.
Es gibt andere Jungs, die tief in Gewalt und Drogen abgerutscht sind und denen ich nicht zur falschen Zeit am falschen Ort begegnen will. Manchmal konnte ich kaum fassen, dass Frauen solch schäbige Typen aushielten. Ich will sie nicht als Täter oder Opfer stilisieren. Wahrscheinlich sind sie beides. Ich bin nicht in ihren Schuhen gelaufen. Ich kann nur erahnen, woher sie kommen und welchen Reiz die moderne Welt auf sie ausüben muss. Wer weiß, was aus mir unter ähnlichen Voraussetzungen geworden wäre. Ist erst mal eine gewisse Grenze überschritten, gibt es kaum ein Zurück. Sie haben mit den tradierten Regeln radikal gebrochen. Wer gehört hat, welche Strafaktionen Punks in Aceh erdulden mussten, bekommt eine Ahnung davon, welch mächtige Feinde man sich mit solch einem Lebensstil beim Staat und unter radikalen Muslimen machen kann. Und nicht zuletzt kamen die Verlockungen von außen. Drogen. Touristinnen. Rap. Lifestyle. Werbung. Geld. Das waren heimtückische Versuchungen. Bis heute will ich mir kein abschließendes Urteil anmaßen. Ich mag bedauern, dass Traditionen verlorengehen, aber ich kann die Jungs nicht verurteilen. Am Ende gibt es trotz aller Differenzen Züge an ihnen, die auch mich prägen. Sie wollen selbstbestimmt leben und lieben. Dass sie dabei oft völlig übers Ziel hinausschießen, ist ein anderes Thema.
Manchmal habe ich die Jungs gesehen, wenn die Frauen wieder abgereist waren und man ihre ganze Erschöpfung und Trauer sehen konnte. Viele waren nicht die harten Typen, als die sie sich gaben. Sie wollten glücklich sein und wussten nicht wie. Wie so viele von uns Jungen, die angesichts der rasanten Veränderungen unserer Zeit mehr denn je zwischen alter und neuer Welt zerrissen sind.
Unter Druck: real estate & Islamisierung
Sie waren nicht die einzigen Menschen auf Lombok, die unter einem gehörigen Druck stehen. Die Lebensbedingungen der Menschen verändern sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Mit dem Tourismus hat auch die Gier auf der Insel Einzug gehalten. Landbesitzer in den touristisch erschlossenen Gebieten können der Versuchung kaum widerstehen, ihr Land zu verkaufen. Die Preise haben sich vervielfacht – und ein Ende des Real-Estate-Booms ist nicht in Sicht. In Sengigi an der Westküste ist dieser Prozess weitgehend abgeschlossen. An der Südküste hat der Ausverkauf längst eingesetzt. Im Hinterland der Küste entstehen luxuriöse Villen. Auf meinen Erkundungsfahrten sind mir immer wieder reiche Russen, Japaner, Australier oder US-Amerikaner begegnet, die nach einem Ort suchen, um ihren Traum zu verwirklichen. Das schafft natürlich Neid bei denen, die nicht davon profitieren und sich diese Entwicklung aus der Ferne ansehen müssen.
Was für eine Ambivalenz: Die „Westler“ zerstören mittelfristig das, was sie suchen – ein erst vor Jahren erschlossenes Paradies; viele Einheimischen neiden genau das, was sie zerstört.
Die Preise für Baumaterialien haben deutlich angezogen. Besonders hart getroffen hat das die Besitzer der kleinen Restaurants und Geschäfte, die sich am Strand von Kuta angesiedelt hatten. Vor kurzem waren sie enteignet worden; man hatte ihre Existenz mit dem Bagger vernichtet und ihnen deutlich schlechteres Bauland zugewiesen – sonst gab es keine Entschädigung. Für viele war es schwierig oder unmöglich, die Kosten für ein neues Gebäude aufzubringen. Auch wenn es offiziell heißt, man wolle den Küstenabschnitt unbebaut lassen, so braucht man nicht viel Phantasie, um zu wissen, wie wertvoll das Bauland ist. Nur eine Frage der Zeit, wann es an Investoren verkauft wird. Angeblich existieren bereits detaillierte Pläne zur Erschließung.
Die Menschen wenden sich immer stärker materiellen Werten zu. Statussymbole werden immer wichtiger. Es ist kein Zufall, dass sich viele meiner jungen Freunde mit Geld und Handys auf ihren Profilbildern in sozialen Netzwerken zeigen.
Einmal besuchte ich einen Antique Shop am Rande von Kuta – angezogen von den schönen Exponaten vor dem Geschäft. Die Preise waren für vermögende Touristen und Aussteiger ausgelegt. Ich kam mit dem Besitzer ins Gespräch. Die Gier sprang ihm fast aus den Augen. In seinem Mund glitzerten Goldzähne. Ich wollte gerade gehen, als mir ein Bild über seinem Schreibtisch auffiel. Die Landschaft kam mir sehr bekannt vor. Und ich lag richtig. Es war in einer abgelegenen Region des Südwestens aufgenommen worden. Der Mann berichtete mir, dass sein australischer Chef dort vor 20 Jahren Land gekauft hatte, das jetzt ein Vermögen wert sei. Ich verwickelte ihn in ein Gespräch über die Folgen dieser Spekulation mit Land, die vielleicht einzelnen nutzen mochte, für die Inselgemeinschaft aber eine Katastrophe war. Den großen Reibach machten meist große Konzerne. Oft wurden dabei Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Die Chance wurde immer mehr verspielt, das Land im Sinne der nächsten Generation zu nutzen. Er erzählte mir, dass er selbst große Ländereien besaß, die er gerne verkauft hätte. Er war sich sogar schon mit einem Investor einig geworden. Eine Million Dollar hatte der geboten. Ich konnte die Dollarzeichen in seinen Augen aufblitzen sehen. Wie gerne hätte er verkauft und sich einen großen Jeep gekauft. All seine Träume verwirklicht. Doch seine Kinder hatten ihr Veto eingelegt und der Verkauf war nicht zustande gekommen. Ich lobte die Kinder für ihre Weitsicht. Er schaute ein wenig betreten drein, murmelte, dass sie vielleicht recht gehabt hatten, stieg auf sein edles Motorrad und brauste davon.
Ich führte viele solcher Gespräche. Das wirkte zwangsläufig ein wenig skurril. Da kam einer aus der dekadenten Ersten Welt, nach der so viele strebten, und kritisierte die Gier in der Dritten. Natürlich musste das absurd erscheinen. Aber wir haben bereits gesehen, wohin die Gier führen wird. Immer mehr Menschen erkennen, dass wir nicht glücklicher werden, sondern immer abhängiger vom schnellen Glück. Freilich noch immer nicht genug. Umso wichtiger schien es mir, dieser Haltung Ausdruck zu geben; ganz gleich, wo ich war. Schließlich geht es um globale Fragen. Zugleich interessierte mich das Schicksal der Insel und seiner Bewohner sehr. Immer wieder fragte ich mich, was ich und andere den Leuten, die überall das große Rad drehen, entgegensetzen können.
Eine andere Entwicklung betrifft den Islam. Die Insel war lange Zeit von einer ganz besonderen Mischreligion bestimmt: Ihre Anhänger sind die Waktu Telu. In dieser Religion, die es ausschließlich auf Lombok gibt, mischen sich Naturreligion, hinduistische Glaubensvorstellungen mit dem Sufismus, einer mystischen und toleranten Strömung des Islam. Sie sind am ehesten mit den Sadhus des indischen Subkontinents vergleichbar. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die Religion immer stärker in Richtung Islam. Die traditionellen Waktu Telu wurden zunehmend als Kommunisten verunglimpft. Es entstanden die Waktu Lima, die wie alle Muslime fünfmal am Tag beten. Doch die Islamisierung ist noch lange nicht abgeschlossen. Auch die Waktu Limastehen unter großem Druck, orthodoxer zu werden. Zum einen fließt viel Geld aus den Golfstaaten und Saudi-Arabien nach Lombok. Überall entstehen gewaltige Moscheen. Zum anderen spielen die kostenlosen Koranschulen eine bedeutende Rolle. Der Staat ist korrupt, die öffentliche Schuldbildung für viele Familien zu teuer. In diese Bresche springen die Koranschulen. Ich möchte mir keinesfalls anmaßen, zu behaupten, diese Schulen seien generell schlecht, aber die Gefahr einer massiven Einflussnahme auf die Wertebildung der Kinder ist gegeben. Gerade die Wahhabiten Saudi-Arabiens propagieren eine radikale Form des Islam. Sie wollen die Scharia als Rechtssystem. Sie lehnen die Vielfalt des Islam ab, insbesondere den Sufismus. Andersgläubigen wird kein Respekt entgegengebracht. Es wäre sehr bedauerlich, wenn den Menschen auf Lombok ihre Toleranz einbüßen sollten. Noch kann man davon freilich nicht sprechen. Doch es gibt andere Regionen Indonesiens, in denen sich der Islam radikalisiert hat. In Aceh herrscht die Scharia.
Mir steht die Vorstellung viel näher, dass es mehrere Wege zu Gott gibt – falls es ihn denn gibt. Diesen Gedanken vertreten auch die Sufis. Im Moment sehen wir stärker denn je, was radikales Gedankengut in allen Religionen anrichtet. Egal ob es sich um Evangelikale, Hindu-Nationalisten oder Islamisten handelt. Nur in Verständigung zwischen den Religionen kann Zukunft liegen. Häufig wurde ich wegen meiner muslimischen Kleidung gefragt, ob ich Moslem sei. Ich antworte, dass es für mich nur einen Weg zu Gott gibt – über das Herz. Der Mystiker sucht Gott in sich selbst.
die Schießerei
Ich hatte einen groben Fehler gemacht und vergessen, meine Kreditkarte aus dem Portemonnaie zu entfernen, als ich an den Strand fuhr. Ich war mit einigen Freunden auf einen nahen Hügel geklettert, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Ich konnte mich nicht beschweren, als ich entdeckte, dass mein Portemonnaie aus dem Scooter gestohlen worden war. Gerade bei den Vario-Modellen ist es keine größere Kunst, unter den Sitz zu gelangen. Mit meiner Kamera hatte ich einige Male Glück gehabt. Ich war zu sorglos geworden. Da aber eine kleine Chance bestand, dass ich die Geldbörse auf dem Hügel vergessen hatte, beschloss ich, noch einmal hin zu fahren. Eigentlich sollte man Orte wie diesen nach Anbruch der Dunkelheit meiden. Aber ich fühlte mich sicher. Ich suchte den Hügel eine Stunde lang mit meiner Taschenlampe ab. Gerade hatte ich widerstrebend akzeptiert, dass ich die Karte abschreiben musste. Ich war schon wieder auf dem Weg hinab zu meinem geparkten Scooter. Von einer nahen Karaoke-Bar, die ausschließlich von Einheimischen frequentiert wurde, hörte ich plötzlich mehrere Schüsse – schweres Kaliber. Neben einem kleinen Strandrestaurant war es das einzige Gebäude in der Bucht. Nun ertönten aggressive Schreie. Ich stand wie erstarrt da. Etwas Schlimmes musste passiert sein. Ich trug einen Sarong, dessen Weiß im Dunklen leuchtete. Ohnehin hatte ich mit dem Lichtkegel meiner Lampe meine Anwesenheit dokumentiert. Nun war es totenstill. Vor der Bar war ein Auto geparkt. Seine Lichter gingen an und aus. Meine Gedanken rasten. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Gangsterstreifen. Ein Teil von mir wollte hingehen, um rauszufinden, was sich dort abgespielt hatte. Dem anderen war bewusst, dass ich nichts Dümmeres tun könnte. Ich war zutiefst geschockt. In mir regte sich ein heftiger Fluchtreflex. Von was war ich da Zeuge geworden? Und was würde man mit mir machen? Wie kam ich hier bloß wieder weg? Der einzige Weg führte in unmittelbarer Nähe an der Bar vorbei. Sollte ich mich verstecken und abwarten? Oder die Beine in die Hand nehmen und so schnell wie möglich Land gewinnen?
Ich verschanzte mich hinter einem kleinen Gemäuer und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Herz schlug mir bis zum Halse. Nach vielleicht 15 Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, fuhr das Auto davon. Es war kein Laut zu hören. Nun entschied ich mich zur schnellen Flucht. Ich rannte zu meinem Scooter und fuhr ohne Licht so schnell es ging über die tückische Sandpiste an der Bar vorbei. Ich erwartete geradezu, dass jemand auf mich schießen würde.
Ich raste zurück Richtung Homestay. Plötzlich stand dasselbe Auto mitten auf der Straße. Zwei Männer standen daneben. Ich konnte mich nicht beherrschen und blickte den beiden Männer direkt in die Augen. Ich wollte sehen, welche Absichten sie hatten. Trugen sie Waffen? Ich war panisch. Für einen Moment sah ich mein Ende gekommen.
Doch sie ließen mich unbehelligt passieren. Zurück im Homestay stand ich noch immer völlig neben mir. Egal mit wem ich darüber sprach, die Reaktionen waren auffällig abweisend. Entweder wollte man mir nicht glauben. Oder man ignorierte meine dringlichen Fragen, was dort vorgefallen sein musste; stattdessen erhielt ich Antwort auf Fragen, die ich gar nicht gestellt hatte. Selten schien mir Angst so greifbar. Keiner wollte involviert werden. Dasselbe Spiel, als ich am nächsten Tag in dem Restaurant in der Bucht nachfragte. Am Ende ließ ich weitere Recherchen ruhen. Ich wollte weder Jemanden in Gefahr bringen, noch mich selbst in eine Sackgasse manövrieren. Ich werde nie erfahren, was an diesem Abend passiert ist. Ob ich Zeuge einer massiven Drohung geworden war oder ob Jemand in dieser Nacht getötet wurde. In jedem Fall eine Erfahrung, die ich nie wieder machen will.
Es wäre dennoch völlig überzogen, von einer gefährlichen Insel zu sprechen. Gewisse Orte sollte man nach Einbruch der Dunkelheit einfach meiden. Die Gewalt auf der Insel hat zugenommen. Immer häufiger kommt es zu Raubüberfällen. Es geschehen Morde. Meist handelt es sich um Auseinandersetzungen unter Einheimischen. Doch auch ein Schweizer wurde kürzlich Opfer. Man hatte ihm an einer Steigung aufgelauert. Dort kommt man mit dem Scooter fast zum Stehen. Er hatte den Raubüberfall nicht überlebt. Als ich davon hörte musste ich schlucken; ich war öfter auf dieser Strecke unterwegs gewesen. 
Ich hoffe sehr, dass sich die Insel trotz all dieser bedrohlichen Entwicklungen etwas von ihrem Zauber erhalten kann. Vor allem den Menschen auf der Insel wünsche ich das!
Im ersten Teil finden sich die erfreulicheren Aspekte meines Aufenthalts. Dort finden sich auch alle anderen Links zu allen anderen Reisereportagen aus Indonesien: 
Höhenflug auf Lombok

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