Das ist schon interessant: In meiner vorhergehenden Buchbesprechung habe ich Tiziano Terzanis Einstellung zum Altern gepriesen, weil dieser sich mit seiner Krankheit arrangiert und dem Tod frohen Mutes ins Auge geblickt hatte. Im vorliegenden Roman hingegen gefällt mir, wie sich der 60-jährige Zirkusdirektor Valentin Samani wieder aufrafft und beschließt, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und mit jedem Tag ein wenig jünger zu werden: “Der Tod ist brutal und mächtig, doch alle Brutalen und Mächtigen kann man mit List betrügen.“ Gut, seine einzige „Krankheit“ bestand in der Pleite seines Zirkus und der damit einher gehenden Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit, des seit einem Jahr als Witwer dahin siechenden Mannes. Wie so oft im realen Leben sind auch hier eine junge Frau und eine neue Liebe der Grund für den Sinneswandel, hier noch gepaart mit der wirtschaftlichen Genesung des Familienbetriebes. Ein Brief eines ehemaligen Kindheitsfreundes aus dem Orient, der mittlerweile reich aber sterbenskrank ist, bringt Geld in Hülle und Fülle und eine neue Aufgabe: Der Zirkus soll schnellstmöglich in den Orient reisen – wohin wird zwar nicht explizit erwähnt, doch spielt der genaue Ort der folgenden Handlung keine wesentliche Rolle. Man könnte sich durchaus Damaskus oder Tripolis, Marrakesch, Tunis oder auch Bagdad als Wohnort des kranken Freundes Nabil vorstellen, wobei Syrien schon wegen der Herkunft des Autors am wahrscheinlichsten ist.
Nun werden in außerordentlicher Geschwindigkeit neue Tiere angeschafft (und seltsamerweise auch in kürzester Zeit so dressiert, dass sie als neue Attraktion herhalten können), Valentins „Traumzelt“ angefertigt und die Mitarbeiter samt ihrer Familien zusammengetrommelt. Auf einem Seelenverkäufer geht es durch gewaltige Stürme in die fiktive Stadt Ulania, alles verläuft unglaublich reibungslos und der Zirkus wird ein absoluter Hit. Schließlich müssen die Besucher auch keinen Eintritt zahlen, Nabil wollte es so und finanzierte dies alles. Auch schafft es dieser unheimlich reiche ehemalige Geschäftsmann trotz seiner schweren Erkrankung spielend, das Publikum fortan durch den Abend zu führen, was Valentin die Gelegenheit gibt, sich der Geschichte seiner Mutter (die sich in einen Mann aus ebenjenem Ulania verliebt hatte) zu widmen und Ideen für sein Buch von einer großen Liebe zu sammeln.
Ich gebe zu, dass ich, sicherlich nicht zuletzt wegen der derzeitigen dramatischen Lage in Syrien (gemeinhin wird diese ja in den Medien als „Konflikt“ bezeichnet, obwohl ein diktatorischer Mörder in einem schlimmen Bürgerkrieg hier sein Volk abschlachtet) mit einer großen Erwartungshaltung in die Lektüre eingestiegen bin. Diese wurde dazu ständig von Anspielungen über phantastische zukünftige Begebenheiten geschürt – kaum eine dieser Versprechungen wurde jedoch im weiteren Verlauf der Handlung erfüllt.
Sicher, Schami beschreibt die für den Orienttypischen Gassen der Altstadt sehr trefflich anhand der Beobachtungen und Notizen von Valentin und seiner neuen Liebe Pia (die mittlerweile Ihren Briefträgerjob an den Nagel gehängt hat und dem 30 Jahre älteren Valentin hinterher gereist ist). Auch bei der sehr plastischen Darstellung des Hammam, der typisch orientalischen Badeanstalt und des dort anzutreffenden typischen Masseurs, musste ich, in Erinnerung an meinen Istanbul-Besuch, wohlig schaudernd vor Schmerzen zusammen zucken. Und auch die Wortschöpfung „Nachmorg“ gefällt mir sehr gut. Das ist die Zeit zwischen Mitternacht und Morgengrauen, in der sich die beiden alten Freunde täglich trafen, um sich Geschichten über ihr Leben zu erzählen. Wie sie es in ihrem Alter und Gesundheitszustand geschafft haben, den ganzen Tag im Zirkus zu arbeiten, auf der Suche nach Spuren von Valentins Mutter durch die Gassen zu streifen, am Buch zu schreiben, der Liebe zu frönen UND sich dann täglich am Nachmorg zusammenzusetzen, sei dahingestellt. Vielleicht gelingt ja auch mir im Alter, was den beiden anscheinend vergönnt war, nämlich mit 4 Stunden Schlaf täglich auszukommen. Wie viel Zeit hätte man dann nicht für all die schönen Dinge wie Lesen, Schreiben, Lieben…!
Ich nehme an, dass „Reise zwischen Nacht und Morgen“ nicht Schamis bestes Werk ist, nein ich wünsche es ihm sogar von Herzen und lasse mich gern in der Zukunft von seiner Sprachgewalt und Raffinesse beeindrucken. Im vorliegenden Roman allerdings ist mir seine orientalische Art der Übertreibung doch ein wenig zu kitschig und unseriös. Wer glaubt schon Geschichten wie diese, dass die 97-jährige Tante von Nabil, die sich beim Lachen so stark verschluckt hatte, dass sie daran erstickte, ihrem Sohn noch erzählen konnte, wonach ihr „im Angesicht des Todes“ zumute sei, nämlich: „Nach einer großen Portion Zitroneneis, einer Riesentafel Schokolade mit gerösteten Mandeln und einem jungen Mann, den ich heiraten und leidenschaftlich lieben kann“
Mir ist fast jede der zwischendurch immer wieder dargebotenen Geschichten ein wenig zu naiv. Wenn ich allerdings an meine eigenen Erfahrungen im Iran zurückdenke, wo ich von jungen Frauen im gebärfähigen Alter hörte, dass sie sich am Liebsten mit ihren Familien zusammensetzten um die schleimigen Liebesgedichte alter persischer Dichter zu rezitieren statt die Liebe selbst am eigenen Leib erfahren zu wollen, kann ich Schamis orientalische Art der Erzählung zumindest nachvollziehen – mögen muss ich sie deshalb noch lange nicht. Wenn aber von einem Mann erzählt wird, der in die Schule seiner Tochter bestellt wird und dort vor dem versammelten Lehrerkollegium nichts weiter zu sagen weiß als: „Hanan ist ein wunderbares Mädchen“ , diesen Satz als Antwort auf alle Vorwürfe der Lehrer gebetsmühlenartig wiederholt und diese damit unglaublich beeindruckt, frage ich mich dann doch, was uns Schami damit sagen und wem er damit imponieren will.
Auch das Lustigsein will gelernt sein, der Autor hat hier noch seinen Weg zu gehen. Ich jedenfalls konnte über keine der Furzgeschichten auch nur halb so herzhaft lachen wie das Zirkuspublikum, was sicher an meiner „abgebrühten“ westlichen Art liegt, die mich von den in der Tat weit weniger abgestumpften Menschen vor Ort unterscheidet. Doch frage ich mich, für welches Publikum das Buch geschrieben wurde, für das westliche oder das orientalische? Nun ja, auch die Herrschenden im betreffenden Lande verstanden nicht viel Spaß und schickten Nabil wegen einer der mehrdeutigen Storys, die den Regierungschef ein wenig verunglimpften, ins Foltergefängnis, aus dem er dann bald wieder entkam. Was ihm nicht viel half, verstarb er doch kurz darauf. Man sieht, auch die Politik macht vor dem Roman nicht halt – oder sollte man es lieber umgekehrt ausdrücken? Denn immerhin hat Schami schon Mitte der Neunziger Jahre, als er diese Geschichte schrieb, geahnt, dass sich in dieser Region der Erde etwas verändern muss und wird. Als hätte er die Bilder aus der heutigen Tagesschau damals schon vor Augen gehabt, wusste oder ahnte er bereits, dass es ordentlich zu rumoren beginnen würde und die alten Herrscher sich nicht ewig halten werden können. Geradezu prophetisch die Beschreibung eines Schauspielers, der während der Festlichkeiten anlässlich eines runden Staatsjubiläums im Regen steht wie gestern Gaddafi und Mubarak und heute Baschar al-Assad: „Die goldene Farbe rann in Strömen von seinem Körper und dennoch wollte er sein Podest nicht räumen.“
Schade, dass der Roman seinen eigenen Ansprüchen nicht genügt und nach dem Tode Nabils mit der vorhersehbaren Heimreise des Zirkus endet, wo doch die beiden Alten während eines nachmorglichen Gesprächs über Valentins im Entstehen begriffenes Buch trefflich sinnieren:„…das Ende muss offen bleiben, damit auch das, was in der Mitte der Geschichte passiert ist, nicht vergessen wird“