Lust auf eine besondere Reise? Komm mit auf die (leicht) strahlende Tour zum Atomkraftwerk Tschernobyl.
Tourbus vor der Tschernobyl SicherheitshülleBist du alt genug um dich an den Fall der Berliner Mauer zu erinnern?
Wo warst du, als du von den Flugzeugen im World Trade Center erfahren hast?
Ein ebenso epochales Ereignis war das Unglück von Tschernobyl 1986.
Ich war erst 7 und zu jung um die Atom-Katastrophe zu verstehen. Um so mehr fasziniert mich heute der größte nukleare Unfall und seine Folgen.
Ohne das Unglück von Tschernobyl würden wir in einer anderen Welt leben!
Gorbatschow nannte es sogar als Hauptgrund für das Ende der Sowjetunion. Schlimmer noch als der enorme wirtschaftliche Schaden war das Systemversagen.
Stell dir mal vor Tschernobyl wäre nicht passiert und es gäbe die Sowjetunion heute noch.
Anschaulich werden Fehler im sowjetischen System in der gut gemachten HBO Mini-Serie „Chernobyl“ (2019) dargestellt. (läuft in Deutschland auf Sky)
Aber um Tschernobyl wirklich zu verstehen, musst du den Unglücksort besuchen. Das ist auf einer Osteuropa-Reise einfach und ungefährlich. Hier erfährst du wie und warum.
Tschernobyl Karte: Übersicht über die Sperrzone
Tschernobyl Karte mit Route der Tagestour - IN GROSSAuf der Karte siehst du in blau die Route einer Standard-Tagestour von Kiew nach Tschernobyl. Das in lila ist die 30-Kilometer-Sperrzone und das rote die 10-Kilometer-Sperrzone.
Tschernobyl Tour: Kiew Tagesausflug mit Führung
Eine Möglichkeit Tschernobyl zu sehen ist ein Tagesausflug von der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Das gehört zum Standard-Programm von rund einem Dutzend Touranbietern.
Es gibt auch keine legale Alternative die Sperrzone individuell zu besuchen. Nur die Touranbieter können dich bei den Checkpoints für einen Besuch anmelden.
Wenn du die rund 85 Euro für eine Tagestour bezahlst, musst du dich dann aber auch um gar nichts kümmern. Selbst das Mittagessen ist bei den meisten Touren inklusive.
Die Touren finden mit wenigen Ausnahmen täglich statt. Weil Tschernobyl immer beliebter wird, musst du mit immer mehr anderen Tourgruppen rechnen.
Praktische Infos zu den Touren findest du am Ende des Artikels.
Touristen am Ortseingang von TschernobylStrahlung in Tschernobyl: Ist ein Besuch gefährlich?
Der große Vorteil einer Tour ist natürlich, dass dein Führer Bescheid weiß, wo die Radioaktivität gefährlich hoch ist.
Der größte Teil der Sperrzone ist heute unbedenklich. Es gibt aber nach wie vor einige radioaktive Hotspots, die man meiden sollte.
Dazu gehören Moosflächen und Pilze, die Radionuklide besonders stark aufnehmen. Aber auch ganze Gebiete sind noch kontaminiert, wie der „rote Wald“ nahe dem Reaktor.
Wenn du die vermeidest ist selbst ein mehrtägiger Besuch ungefährlich. Die Strahlenmenge bei einem Flug nach Kiew ist höher als in einem Tag in der Sperrzone.
Im Kulturpalast der Geisterstadt PrypjatPrypjat besuchen: Die Geisterstadt bei Tschernobyl
Die größere Gefahr sind die langsam baufälliger werdenden Gebäude. Offiziell ist das Betreten zwar verboten, aber das stört niemanden – zum Glück!
Die Geisterstadt Prypjat ist nämlich das eigentliche Highlight des Ausflugs. Für eine kurze Exkursion gehen wir durch den verlassenen Kulturpalast und durch eine Schule.
Vor dem Reaktorunfall war Prypjat quasi ein Silicon Valley der Sowjetunion. Nur Musterbürger durften in der Modellstadt 3 Kilometer vom Atomkraftwerk wohnen.
1986 wurde die Stadt nach dem Unfall evakuiert und die Uhren sind stehengeblieben. Du gehst heute vorbei an Sowjet-Propaganda und einem nie eröffneten Vergnügungspark. Der ganze Ort ist ein Museum.
Willkommen in Prypjat, Bevölkerung 0. Stell dir vor, dass nach dem Ende der Menschheit einmal alle unsere Städte so aussehen werden.
Riesenrad in der Geisterstadt PrypjatTschernobyl heute: Bilder vom Sieg der Natur
Mindestens ebenso interessant wie Urban Exploration in den Gebäuden ist das viele Grün außerhalb. Die Natur hat sich Prypjat längst zurückerobert.
Schon der zentrale Platz vor dem Kulturpalast erinnert an einen Endzeitfilm. Bäume wachsen hier nach mehr als 30 Jahren durch die Fliesen und aus dem Asphalt.
Die ehemals breiten Parade-Straßen in Prypjat sind nur noch einspurig befahrbar. Links und rechts wuchert dichter Wald. Manchmal kannst du aus dem Busfenster ein Gebäude ausmachen.
Wir sehen keine Tiere, aber es soll hier viele Elche, Wölfe, Wildschweine und Rehe geben. Die Rest-Strahlung ist kein so großer Feind wie der Mensch außerhalb der Sperrzone.
Moos strahlt am meisten, aber auch nicht vielFriede Freude Eierkuchen in Tschernobyl?
Im Verlauf der Tour stellt sich nicht nur wegen der vielen Natur ein Eindruck von Harmlosigkeit ein. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber Friede Freude Eierkuchen eher nicht.
Einmal stehen wir Schlange am Selfie-Spot direkt vor dem havarierten Reaktor. Der Geigerzähler zeigt sich selbst hier sehr müde. Er schlägt auf der Tour nur einmal, beim Vorbeifahren am roten Wald aus.
Auch dank der laxen Sicherheitsvorschriften kommt kein Gefühl von Gefahr auf. Die Militärs stehen gelangweilt rum. Für Tausende von hier lebenden Arbeitern ist die Sperrzone sowieso Alltag.
Es hilft auch nicht, dass wir mit einer großen Gruppe von 30 Leuten in einem Reisebus unterwegs sind. Immer wieder sehen wir andere Tourgruppen, obwohl wir versuchen ihnen aus dem Weg zu gehen.
In vielen der Gebäude empfangen uns Stillleben mit schön drapierten Gasmasken oder Kinderpuppen. Die Sperrzone wirkt so eher wie die disneyfizierte Inszenierung einer Katastrophe.
Anstehen für Selfies vor dem Reaktor 4Ist eine Tschernobyl Tour Katastrophentourismus?
Aber ist es schlimm, wenn die Sperrzone um Tschernobyl heute eher harmlos ist? Sollten wir uns nicht freuen, dass selbst so ein Super-GAU viel weniger bleibende Schäden hinterlässt als erwartet?
Besucher in Tschernobyl sind Teil des weltweiten Katastrophentourismus. Aber wem schadet der Tourismus in Tschernobyl? Der von Krieg und Währungskrise gebeutelten Ukraine sicher nicht.
Sind die Liquidatoren die Leidtragenden, weil sie am heutigen Selfie-Spot ihre Gesundheit für den Bau des Sarkophags riskiert haben? Oder haben sie genau für diese Unbeschwertheit heroisch gekämpft?
Tschernobyl ist sehr polarisierend. Wenn du mich fragst ist das Unglück ein Mahnmal gegen Lügen und gegen das Sparen bei der Sicherheit. Es ist ein Fanal für eine gute Sicherheitskultur.
Wenn ein Boeing Manager einem Angestellten sagt, dass er einen Baufehler beim 737 Max verheimlichen soll, dann muss ohne zu Überlegen die Antwort kommen: „Das ist ja wie bei Tschernobyl!“
Tschernobyl unterscheidet sich in dem Punkt nicht von Auschwitz oder Hiroshima. Je mehr Leute in die Sperrzone kommen um so besser. Wir müssen uns an das Unglück und die gemachten Fehler erinnern.
Gasmasken in einer Schule in PrypjatTodes-Opfer: Welche Folgen hatte Tschernobyl?
So schlimm Tschernobyl auch war. Bei einem Besuch lernst du, dass sich viele Mythen um die größte Nuklearkatastrophe ranken. Ich war vorher fest überzeugt Tschernobyl hätte zu Missbildungen geführt und zu Hunderttausenden Todesopfern.
Laut offiziellen Zahlen sind 31 Menschen direkt durch Tschernobyl umgekommen. Nur Opfer aus dem Jahr 1986 zu zählen ist natürlich Blödsinn. Wenn du alle Folgeopfer bis heute mitzählt, sind es mehrere Hundert Todesfälle.
Die Weltgesundheitsorganisation geht von 4.000 Todesopfern aus. Das sind Hochrechnungen über Todesfälle durch Strahlenfolgen bis 2065, vor allem Krebs. Die Langzeitfolgen waren nicht so gefährlich, wie man zuerst angenommen hatte.
Greenpeace kommt in einer eigenen Hochrechnung auf viel mehr Todesopfer, nämlich 93.000. Übertriebene Zahlen und erfundene Horrorgeschichten über angebliche Fehlbildungen haben laut WHO mehr Menschenleben gekostet als die Strahlung selbst. Psychosomatische Angst war die schlimmste Gesundheitsfolge von Tschernobyl.
Überrascht? Das war ich allerdings auch, als ich mich wegen unserem Besuch mit Tschernobyl beschäftigte. Tschernobyl war sehr schlimm, aber nicht annähernd so schlimm, wie es oft dargestellt wird.
Nicht die Strahlung war das Hauptproblem von Tschernobyl, sondern die Angst davor. Das ist nicht nur geschichtlich interessant. Strahlenangst ist auch heute noch ein großes Problem bei der Lösung unserer Klimakrise.
Reaktoren 1-4, erst 2001 wurde Reaktor 3 abgestelltUnfall-Ursachen: Wie ist Tschernobyl passiert?
RBMK-Reaktoren wie Tschernobyl hatten um Kosten zu sparen 3 schwerwiegende Baufehler:
- positiver Blasenkoeffizient
- Graphitspitzen am Bremsstab
- keine Sicherheitshülle
Eine unvorbereitete Nachtschicht sollte für einen „Sicherheitstest“ alle automatischen Notfallsysteme abschalten. Dann wurde sie unter Drohungen gezwungen alle Bremsstäbe auszufahren. Durch Baufehler 1 kam es zu einer selbst verstärkenden Leistungssteigerung.
Als die Leistung rasch stieg betätigte die Kraftwerks-Crew die Notabschaltung. Statt zu bremsen, verstärkten die einfahrenden Bremsstäbe wegen Baufehler 2 die Leistung aber noch auf das Hundertfache. Niemand wusste von dem Baufehler, weil er absichtlich geheimgehalten wurde.
Das Kühlwasser verpuffte explosionsartig und ließ den tonnenschweren Reaktor in die Luft schießen. In einer zweiten Knallgas-Explosion wurde der Reaktor dann in der Luft zerrissen. Radioaktives Kernmaterial wurde wegen Baufehler 3 in die Umgebung verteilt und der schmelzende Reaktorkern lag offen. Hier ist der genaue Ablauf des Tschernobyl-Unfalls.
Hätte es einen dieser Baufehler nicht gegeben, egal ob 1, 2 oder 3, dann würden wir den Namen Tschernobyl heute nicht kennen.
Sowjet Propagandaposter zum Maifeiertag in PrypjatSicherheitskultur: Kann sich die Katastrophe wiederholen?
Die Chernobyl-Fernsehserie geht zwar auch auf die Baufehler ein, aber vor allem geht es den Machern um die Fehler im sowjetischen System. Mit einer guten Sicherheitskultur hätte die Katastrophe vermieden werden können.
Im Vordergrund steht in der Serie Valery Legasov. Der Leiter des Untersuchungskomitees wollte Baufehler 2 mit der Notabschaltung nach dem Unfall bekannt machen, um ähnliche Unfälle in Zukunft zu verhindern.
Selbst in der Glasnost-Ära der Sowjetunion führte das zur Ächtung und zum vorzeitigen Ende seiner Karriere. Er hat sich am zweiten Jahrestag von Tschernobyl das Leben genommen.
Die Sicherheitskultur der Sowjetunion war grottenschlecht. Wer ein Problem ansprach, wurde selbst zum Problem gemacht. Es war wichtiger für Fehler nicht verantwortlich zu sein, statt Fehler zu vermeiden.
Tschernobyl passierte also nicht nur wegen den Baufehlern. Aber ohne die drei Baufehler eines russischen RBMK-Reaktor hätte die Katastrophe von Tschernobyl nicht passieren können.
In einem deutschen AKW wäre das nicht passiert und die deutschen Meiler sind noch uralte Designs aus den Sechziger Jahren.
Kindergarten vom aufgegebenen Ort Kopatschi„Chernobyl“ TV-Serie & andere Empfehlungen
Du planst noch keine Reise in die Ukraine? Schau erstmal die fünfteilige HBO-Serie „Chernobyl“. Von den Wertungen auf IMDB ist das mittlerweile die beste TV-Serie aller Zeiten.
Die Fernsehserie ist halbwegs realistisch, aber es gibt einige Hollywood-Dramatisierungen. Zum Beispiel wird bei den Szenen im Krankenhaus nahegelegt, dass eine Strahlenerkrankung ansteckend sei, sogar für ungeborene Babies. Strahlenopfer werden aber nicht selbst radioaktiv. Allgemein sind die Strahlenfolgen stark übertrieben dargestellt.
Wenn du über das wahre Tschernobyl lesen willst, nimm dir das 2019 erschienene Buch Midnight in Chernobyl* vor. So viele Fakten wie der New York Times Bestseller hat kein anderes Buch zusammengetragen. Dank mehreren Jahrzehnten Abstand zum Unfall enthält das Buch auch vormals geheime Infos. Midnight in Chernobyl gibt es auch als Hörbuch*.
Überhaupt nicht empfehlen kann ich den B-Movie Horrorfilm „Chernobyl Diaries“. Die erste Hälfte ist noch ok, aber die zweite Hälfte langweiliger Horror und respektlos gegenüber den tatsächlichen Opfern von Tschernobyl.
Mehr Infos über Tschernobyl heute findest du im tollen Reisebericht von Walter Rüegg. Er hat mit einer kleinen Expertengruppe sogar den Kontrollraum des Reaktors 4 besucht. Als Kernphysiker kann er die Vorgänge in Tschernobyl mit Expertenwissen erklären.
Und hier ist der Text, der mich vor ein paar Monaten zu meinem Besuch motiviert hat: In Tschernobyl gibt es nichts zu befürchten (englisch)
Das riesige Duga Radar liegt auf der StandardrouteTschernobyl Tour von Kiew: Praktische Infos
Die Tagestour von Kiew dauert wirklich den ganzen Tag bis mindestens 21 Uhr. Mach die Tour besser nicht an dem Tag, an dem du abends noch einen Rückflug erwischen musst.
Morgens um 8 Uhr ist Treffpunkt. Wir haben uns mit unserem Touranbieter am Maidan getroffen. Der große zentrale Platz ist super per Metro zu erreichen. Je nach Anbieter gibt es andere Treffpunkte.
Es sind 2 Stunden Fahrt bis zur 30-Kilometer-Sperrzone. Dort musst du am Checkpoint die Regeln unterschreiben. Dann bekommst du ein Dosimeter, das deine Strahlung aufzeichnet.
Am Ende der Tour wird dann deine Strahlendosis im Dosimeter ausgewertet. Außerdem gibt es jedes Mal beim Verlassen der Sperrzone einen Strahlentest. Transparent ist das alles aber nicht.
Nimm eine Flasche Wasser, einen Regenschirm und lange Kleidung mit. Lange Hosen solltest du die ganze Zeit tragen. Langarm wird nur in der 10-Kilometer-Sperrzone empfohlen.
Unsere lustige Tourführerin in TschernobylWelcher Touranbieter für den Tschernobyl-Ausflug?
Welchen Touranbieter du auswählst ist relativ egal. Die fahren alle ungefähr die gleiche Route ab. Achte darauf, dass das Mittagessen in Tschernobyl nicht auch noch extra kostet.
Eine teure deutsche Tour halte ich für unnötig. Das Englisch auf unserer Tour war sehr gut verständlich. Zusätzlich kannst du einen Geigerzähler mieten – muss auch nicht sein.
Buche mindestens eine Woche vorher. Wenn du nur wenige Tage vorher buchst können Touren ausgebucht oder teuer sein. Die Touranbieter müssen außerdem im Vorfeld deine Daten übermitteln.
Wenn du kein Urban Explorer bist, wird dir die Tagestour ausreichen. Mehrtägige Touren sind erheblich teurer. Du übernachtest dann im Ort Tschernobyl 15 Kilometer vom AKW. Bei viertägigen Touren kannst du sogar das AKW selbst besichtigen.
Wir sind mit dem ältesten Tschernobyl-Touranbieter Solo East gefahren. Die sind sehr zu empfehlen und mit einem 10% Rabatt ab 2 Personen auch preislich attraktiv. Du musst auch nur die Hälfte der Kosten vorher anzahlen.
Meine Frau und ich haben die Tour und die Ukraine-Reise natürlich selbst bezahlt, ohne Sponsor.
Reaktor Replika im Tschernobyl Museum in KiewEmpfehlung: Tschernobyl Museum in Kiew
Selbst wenn du die Tschernobyl-Tour nicht machen willst, schau in das Tschernobyl-Museum in Kiew. Das bietet viele Informationen und Modelle. Der große Raum mit einer Reaktor-Replika ist sehr gelungen, siehe Bild.
Kiew und die ganze Ukraine sind übrigens ein tolles Reiseziel.
Fährst du nach Tschernobyl oder lässt du es lieber?
Dies ist mein Beitrag zur Blogparade Schwarzer Tourismus bei The Road Most Traveled.
Reise nach Tschernobyl: die strahlende Tour zum Atomkraftwerk