Reinhold Messers Steckenpferd ist die Moral. Wenn man darauf achtet, findet man das Thema in den meisten seiner Interviews und Reden. Was Messner umtreibt ist die bürgerliche Moral. Jeder Extremsportler muss sich die Frage nach der Verantwortung gefallen lassen. Auch wenn ich sicher kein Messner-Fan bin, bringt Messner ein belastbares Argument. Er formuliert selbst die Fragestellung: „Ist das unseren Angehörigen gegenüber verantwortlich, was wir tun?“ Wer über den Extremsport in dieser Hinsicht urteilen möchte, muss die gleichen Fragen stellen, wie bei der Beurteilung eines Suizids. Warum? Plinius der Jüngere, in seinen Briefen, drückt es ziemlich klar aus: „Bei denen, die von der Krankheit dahingerafft werden, liegt immerhin ein starker Trost eben in der Unabwendbarkeit; bei denen, die ein freiwilliger Tod entführt, ist der Schmerz darüber unheilbar, weil man glaubt, sie hätten noch lange leben können.“ Moralphilosophisch kann es viele Moralen geben. Es gibt unfassbar viele Moralen, denn für jede fixe Idee kann man eine Moral konstruieren. Man denke sich drei absurde Regeln aus und man erhalte eine fertige Moral: „Jeden Morgen die Katze an die Wand nageln“, „Samstags die Schuhe blau lackieren“ und „Mindestens einmal im Leben zu einem Priester gehen und das Ehegelöbnis abgeben“. Zum Beispiel – natürlich gibt es auch sinnvolle Moralen. Eine Moral muss erstmal nicht allumfassend sein, nur sind die Interessanten es natürlich. Eine Moral ist ein Wertekanon. Er könnte auch aus einer Regel bestehen: Liebe Deinen Hund. Die zehn Gebote sind Wertekanon und Moral. Der bürgerliche Wertekanon, mit seiner Arbeitsmoral, seinen Einstellungen zu Suizid, Euthanasie, Familie etc. ist auch eine Moral. Und auch wenn wir in Medien und an Stammtischen eigentlich genau diese Werte diskutieren, heißt das nicht, dass diese Werte auch unanzweifelbar sind. Das ist auch jedem klar, denn sonst würden sie nicht diskutieren. Von vielen dieser Regeln in diesem Wertekanon sind nicht alle überzeugt und viele Regeln widersprechen sich gegenseitig. Der Punkt ist, dass der Extremsport mit seinen Risiken nicht mit diesem bürgerlichen Kanon vereinbar ist. Denn dieser geht von einer unumstößlichen Verantwortung für Freunde und Familie aus. Messner sagt, dieser Punkt sei eben doch umstößlich. In einer Sportreportage zum Extremsport sagt er: „Aber wenn jetzt die Frau, die Kinder, die Mutter (vor allem) die Ängste, die Zweifel, die Sorgen nicht äußern oder nicht haben, dann dürfen wir es – nach meinem dafürhalten – tun.“ Die Verantwortung, die man für Freunde und Familie hat, beruhe also auf einer Vereinbarung der Betroffenen mit dem Extremsportler. In unseren Gesellschaften heißt diese oft stillschweigend: Ich bin meinen Freunden wichtig und passe schon alleine deshalb auf mich auf, weil ich ihnen kein Leid zufügen möchte. Dies kann, so verstehe ich Messner, genauso anders vereinbart werden. Wenn nämlich jeder zu jedem sagt, Du bist mir sehr wichtig und fände es sehr schlimm, wenn dir etwas zustößt, doch wenn es das ist, was du tun musst, möchte ich deinem Lebensglück nicht im Wege stehen und nehme dafür in Kauf, mich möglicherweise von dir verabschieden zu müssen.