Ich liebe Bücher! Ich mag den Geruch eines Buches; den Geruch der Druckerschwärze und den des Papiers. Ich mag es, Papier anzufassen; über die glatten und manchmal nicht so glatten Seiten zu streichen; mit den Fingern umzublättern und, wo immer ich möchte, Zettel hinein zu kleben oder etwas anzustreichen.
Ich habe bis vor ein paar Wochen mich noch vehement dagegen gewehrt, auf einem Kindle oder Ähnlichem elektronisch zu lesen. Bis ich das iPad bekam. Und so wanke ich derzeit und werfe alte Vorstellungen über Bord. Denn langsam werden meine Bücherregale immer voller und voller; ich habe keinen Platz mehr für Bücher. Auf so einem iPad hingegen…
Ich habe es getan! Und mir das erste digitale Buch gekauft; die “Enthemmte Wirtschaft” von Reinhard Jellen. Und ich bereue nichts.
Cover
Das Buch ist eine Zusammenstellung von Interviews, die Reinhard Jellen im Laufe etlicher Jahre für Telepolis führte. Immer geht es um wirtschaftliche Dinge und Zusammenhänge. Mit Ausnahme eines Artikels ist das Buch unbedingt lesenswert. Denn viele Sachzusammenhänge, die die aktuelle(n) Krise(n) betreffen und die Hintergründe – auch was das neoliberale Wirtschaften betrifft – werden so erklärt, dass auch ich (endlich) etwas verstanden habe.
Im Verlagtstext zum Buch heißt es: Seit dem endgültigen Ende des “Goldenen Zeitalters” (Eric Hobsbawm) in Deutschland zu Beginn der achtziger Jahre ist mit Zunahme des wirtschaftlichen Drucks immer wieder jenes Phänomen zu beobachten gewesen, dass demokratisch legitimierte Entscheidungsfindung durch eine mehr oder minder direkte Einflussnahme der Wirtschaft ersetzt wurde. Spätestens mit dem Beginn der rot-grünen Koalition wurde mit Hochdruck daran gearbeitet, die Maßgaben der Wirtschaftseliten bereits vor der Abstimmung im Parlament durchzusetzen, indem man vorab argumentativ den politischen Handlungsrahmen so begrenzt, dass die darauf folgende Entscheidung nur noch in eine Richtung zielen konnte, nämlich die der “Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschlands” durch mehr “Deregulierung” und “Flexibilisierung”.
Und mit genau diesen Mythen um die Notwendigkeiten von Deregulierung und “Arbeitsmarktbereinigung” räumt das Buch gründlich auf! Man muss nicht Marxist sein, um die Zusammenhänge zu begreifen, auf die sich manche der Interviewten berufen (Marx spielt bei Etlichen eine große Rolle).
Was das Buch nicht ist: eine Handlungsanleitung. Denn leider belässt es das Buch bei Zustandbeschreibungen – die treffender nicht sein können – und gibt aber nur in vorsichtigen Ansätzen Ideen für eine Gesellschaftsordnung nach der kapitalistischen. So wird das Wiederaufleben des Genossenschaftsgedanken von Walter Rügemer als Gegen-Möglichkeit gewertet, das menschenverachtende System des Kapitalismus zu entmachten.
Robert Kurz meint: “Erforderlich wäre eine autonome, soziale Gegenbewegung jenseits des nationalen Rahmens, die sich die Lebensinteressen nicht von den Krisenverwaltern ausreden lässt, und die jede soziale, geschlechtliche, ethnische oder “rassistische” Ausgrenzung radikal negiert. Die ist aber … nicht in Sicht.” - Andere Autoren verweisen jedoch auf die Occupy-Bewegung und sehen dort ansatzweise eine neue Art von Demokratie.
Insgesamt gibt es aber viel Kritik auch an die Globalisierungsgegner (wie z.B. attac), da diese sich innerhalb des Systemes befinden und Teil davon sind. Der Vorwurf lautet, dass diese Bewegungen nur die Auswirkungen des Systemes verändern wollen; nicht das System an sich.
Noch ein Zitat von Hans Jürgen Krysmanski, der – wie mir scheint – in der aktuellen Debatte um das sog. “Leistungsschutzrecht” bedeutsam ist:
Politische Willensbildung, lebendige Demokratie ist an der Entwicklung der Medien, an die Möglichkeiten digital vermittelter öffentlicher Debatten gebunden. Für mich hängt die Zukunft der Demokratie im Sinne des Grundgesetzes sehr stark vom Schicksal der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ab. Um deren Zukunft ist ja überall ein entscheidender Kampf entbrannt. Derzeit beherrscht eine Handvoll großer Medienkonzerne die Weltöffentlichkeit. Die wollen mit aller, wirklich aller Gewalt auch die Kontrolle über das Internet erzwingen.
Alles in Allem: Ein sehr lesenswertes Buch für all Jene, die sich nicht damit abfinden möchten, dass uns Regierungen permanent mitteilen, was alles notwendig sei, um “systemrelevante Banken” zu retten – und dass es daher unumgänglich sei, den Sozialstaat abzuschaffen.
Allerdings: Ideen für eine andere Zukunft müssen wir selbst entwickeln!
Nic
Reinhard Jellen - Enthemmte Wirtschaft, Krisen, Politik und Grenzen der Demokratie - Verlag Heinz Heise- 3,99 Euro (eBook) ISBN 978-3-936931-91-4
Inhalt und Kurztext auf der Seite von Telepolis
PS: Ich habe inzwischen auch Florian Freistetters “2012, Keine Panik” als eBook gekauft