Regierungsbildung in den Niederlanden: Rechts mit einer Bibel

Der Populismus ist besiegt, jubelte ganz Europa nach den Wahlen in den Niederlanden am 15. März, und dann wandte man sich wieder den eigenen Sorgen zu. Dabei hinterließen die Wahlen die Niederlande in einer schweren Krise. Wie sollte eine Regierung gebildet werden können? In meinen bislang drei Beiträgen zu diesem Thema habe ich die ersten 103 Tage der Regierungsbildung verfolgt. In diesem Beitrag möchte ich die weitere Entwicklung nachzeichnen.

Informateur Gerrit Zalm von der rechtsliberalen VVD nahm am 27. Juni 2017 seine Arbeit auf. Seinem Vorgänger Herman Tjeenck Willink war es gelungen, die VVD, den CDA, die D66 und die Christenunie an den Verhandlungstisch zu bringen. Wir erinnern uns: Zwischen den linksliberalen D66 und der orthodoxen Christenunie gibt es in medizinisch-ethischen Grundsatzfragen unüberbrückbare Gegensätze. Vor allem das Vorhaben der D66, Menschen über 75 die freiwillige Euthanasie zu gestatten, stieß bei den Christen auf harten Widerstand. Doch die Christenunie mit ihren 6 Sitzen in der zweiten Kammer ist eben nur eine kleine Partei, in den Augen vieler Beobachter wäre es undemokratisch, wenn sie einer großen Mehrheit ihren Willen aufzwingen könnte.

Wie dem auch sei: Eine Alternative zu den vier parteien gab es nicht mehr, sie waren zur Zusammenarbeit verurteilt, nachdem andere Möglichkeiten ausprobiert worden waren oder die Parteien sich zurückgezogen und mitgeteilt hatten, dass sie für eine Regierungsbeteiligung nicht zur Verfügung stünden. So musste also Gerrit Zalm, langjähriger Finanzminister in verschieden ausgerichteten Kabinetten, eine Lösung für diese heftigen Probleme finden. Doch im Gegensatz zu seinen Vorgängern machte er zu Beginn seiner Tätigkeit eine erstaunliche Aussage: Für ihn sei nicht das Tempo entscheidend, sondern die Qualität des Ergebnisses. Bislang hatte man versucht, ein Kabinett noch vor dem sogenannten Prinsjesdag zustande zu bringen, dem Tag, an dem die Regierung den Haushalt für das kommende Jahr vorlegt. Offenbar begriff Zalm, dass ihm dies nicht gelingen würde. Andererseits verpflichtete er die Verhandlungspartner zu längeren Sitzungen, zu mehr konzentrierter Arbeit.

Die „Formatie“ ist ein Pokerspiel. Es gibt allerlei Winkelzüge und kleine Theatervorführungen, die vor allem für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Zum Beispiel verkündete Zalm, die Verhandlungspartner würden in ein oder zwei Wochen für einige Tage nicht im Statthaltersaal des Parlamentsgebäudes, sondern „irgendwo anders im Land“ verhandeln, um die Atmosphäre aufzulockern. Tagelang konnten sich nun die Journalisten fragen, wo dieser andere Verhandlungsort sein würde. Sie hatten auch sonst nichts zu melden, außer der Tatsache, dass zu Beginn der Verhandlungen wieder die Vertreter der niederländischen bank, des zentralen Planungsbüros und des sozialökonomischen Rates ihre Aufwartung machten. Über den Inhalt der Verhandlungen drang nach wie vor nichts nach außen. Natürlich spekulierten die Journalisten darüber, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Schließlich kam heraus, wo die Verhandlungen während dieser besonderen Tage stattfinden würden: Rund 100 Meter vom parlament entfernt im Johan-de-Witt-Haus. Mancher Journalist mag sich auf den Arm genommen gefühlt haben. Doch eingeweihte Kreise verrieten den Grund, warum man ins nachbargebäude auswich: Im Statthaltersaal sei es entsetzlich warm, die Konzentration lasse nach. Die Wärme entsteht, weil man die Fenster des Saales nicht öffnet, und das tut man nicht, weil dann die Journalisten, die draußen stehen, jedes Wort der Verhandlungen hören können, so nahe kommen sie an das Gebäude heran.

14 Tage wurde verhandelt, dann genehmigte man sich etwas mehr als zwei Wochen Pause. Auch zwischendurch waren die Verhandlungen unterbrochen worden, denn der Chef der Christenunie, Gert-Jan Segers, wollte nach Berlin, um an einem Konzert der Gruppe U2 teilzunehmen. Diese christliche Band inspiriere ihn, ließ er wissen.

Nun aber mal ernsthaft: Wie sollte man die großen Probleme lösen, die es bei diesen Verhandlungen nach wie vor gab? Eine Möglichkeit war, die Abstimmung über medizinisch-ethische Fragen zu freien Gewissensentscheidungen zu erklären, damit der Fraktionszwang aufgehoben wird. Dann könnten die Christen dagegen stimmen, die D66 aber dafür, und damit hätte es sich. Dann würde das Gesetz vermutlich mit einer mitte-links-Mehrheit angenommen, zumindest wäre dies möglich. Die Christen müssten dem Gesetz dann nicht zustimmen, obwohl sie mit in der Regierung sitzen. Allerdings kommt diese scheinbar einfache Lösung wohl nicht in Betracht. Wenn ein Gesetz durch das Parlament angenommen ist, bedarf es der Gegenzeichnung durch einen zuständigen Minister, bevor es dem König vorgelegt wird, denn verantwortlich sind die Minister, nicht der König. Diese Gegenzeichnung geschieht aber im Namen des gesamten Ministerrats. Gert-Jan Segers machte deutlich, dass das für ihn keine Lösung sei, weil er dann doch mit die Verantwortung für ein solch unethisches Gesetz übernehme. Gewissensentscheidungen müssen also aus verfassungsrechtlichen Erwägungen heraus vermieden werden. Allerdings gibt es da vielleicht einen Ausweg. Wenn die D66 ihren Anhängern verkaufen kann, dass das Gesetz durch das Parlament in freier Entscheidung angenommen wurde, aber erst in der nächsten Legislatur unterzeichnet werden würde, könnte es funktionieren. Das setzt aber voraus, dass in der nächsten Legislatur, also ab 2021, die Christenunie nicht mehr mit in der Regierung sitzt. Dessen kann man sich nicht sicher sein. Ob die D66 sich auf dieses dünne Eis wagen, ist noch nicht bekannt.

Viele fragten sich während der letzten Wochen, warum zum dritten mal alle Experten der Planungsbüros und des finanzministeriums zum Rapport einbestellt wurden. hat sich die Situation des Landes in den letzten 4 Wochen so verändert? Vermutlich nicht. Es scheint eher so, als ob entgegen aller Beteuerungen das Ende der Verhandlungen hinausgezögert wird. Das hat auch mit dem Prinsjesdag zu tun. Ein neues Kabinett, das noch einen Haushalt erarbeiten und am Prinsjesdag vorlegen will, müsste bis mitte August vereidigt sein, der Haushalt bedarf einiger Vorbereitungen. Doch seit Anfang Juli war klar, dass das nicht zu schaffen war. Wenn das neue Kabinett also vor Prinsjesdag, dem dritten Dienstag im September, vereidigt werden würde, so müsste es den abgeschwächten, technischen Haushalt der noch geschäftsführenden Regierung ins parlament einbringen und verabschieden. Dann könnten sie zu Beginn ihrer amtszeit keine Wahlversprechen umsetzen, keinen Ruck durchs land gehen lassen. Da ist es für die neue Regierung schon besser, wenn sie erst nach dem Prinsjesdag ihr Amt antritt und erst für den nächsten Haushalt Verantwortung übernimmt. Den meisten Wählern sind solche Fragen jetzt ziemlich egal, doch wenn nach der Regierungsbildung ein Jahr lang nichts passiert, murren sie auch. Daher ist diese taktische Überlegung durchaus nachvollziehbar. Demokratische Mühlen mahlen langsam. Vermutlich hatte auch deshalb niemand Probleme mit den fast drei Wochen Sommerurlaub in den Verhandlungen.

Währenddessen scheint die geschäftsführende Regierung, die die Amtsgeschäfte noch bis zur Vereidigung des neuen Kabinetts führt, und in der noch die geschröpften Sozialdemokraten vertreten sind, auseinanderzubrechen. Lodewijk asscher, der Parteiführer der Sozialdemokraten, will in dem anstehenden technischen Haushalt mehr Geld für Lehrer und die allgemeine Kaufkraft zur Verfügung stellen, vor allem für Lehrer, die neulich für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn streikten. Nun hat Asscher absolut nichts mehr zu melden, er verwaltet nur noch sein Sozialministerium, aber weil die neue Regierung, die er „rechts mit einer Bibel“ nennt, noch nicht vereidigt ist, trägt er noch die Verantwortung und will gestalten. Das nehmen ihm die neuen Koalitionäre übel, und auch die VVD, die bislang der Koalitionspartner war, weigert sich, diesen Wünschen zuzustimmen. So droht Asscher, noch im August das Kabinett zu verlassen, also tatsächlich das Amt schon vor der Vereidigung niederzulegen, und zwar mit allen Sozialdemokraten. Dann müssten die VVD-Minister auch deren Amtsgeschäfte mit übernehmen, bis das neue Kabinett steht. Es kann sich nur um einen Profilierungsversuch handeln, sozusagen der Schritt in die Opposition, der Asscher als Alternative zum jetzigen Ministerpräsidenten Rutte in Stellung bringt und sein Profil bei den Wählern schärfen soll. Ob ihm das gelingt, kann noch niemand voraussehen.

151 Tage dauert nun schon die Regierungsbildung, und es scheint, als hätte sich in den letzten zwei oder drei Tagen irgendetwas verändert. Zwar werden immer noch keine inhaltlichen aussagen getätigt, wenn die Verhandlungsführer abends müde den Statthaltersaal verlassen, doch alle gaben am Freitag an, sie hätten endlich große Fortschritte erzielt. Es schien sich um ein verabredetes Statement aller beteiligten zu handeln. Das lässt darauf schließen, dass es tatsächlich vorwärts geht, und vielleicht schon länger, als wir wissen. Vielleicht haben alle im Urlaub schon Pläne gemacht. Vermutlich liegen die finanziellen Vorschläge des neuen Kabinetts schon beim zentralen Planungsbüro, das alle Regierungspläne durchrechnet und dann mitteilt, ob sie sinnvoll sind. Vermutlich wird die neue Regierung ende September endlich stehen. Von den ewig gleichen, nichtssagenden Statements und den ewig gleichen Spekulationen haben die Wähler und die Journalisten mittlerweile – verzeihen Sie die Ausdrucksweise – die Schnauze voll.

Im März jubelte ganz Europa, man habe in den Niederlanden den Populismus besiegt. Doch je länger die Regierungsbildung dauert, desto mehr Kapital könnte Geert Wilders aus dieser Krise schlagen, weil sich scheinbar nichts tut in den Haag. Seine Umfragewerte steigen jedenfalls seit einigen Wochen wieder an. Noch ist der Populismus ganz und gar nicht besiegt.

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