Regierungsbildung in den Niederlanden: Ein verrücktes Pokerspiel

Der Populismus ist besiegt, jubelte ganz Europa nach den Wahlen in den Niederlanden am 15. März, und dann wandte man sich wieder den eigenen Sorgen zu. Dabei hinterließen die Wahlen die Niederlande in einer schweren Krise. Wie sollte eine Regierung gebildet werden können? In meinen ersten beiden Beiträgen zu diesem Thema habe ich die ersten 61 Tage der Regierungsbildung geschildert, die dem Versuch gewidmet waren, eine Koalition aus rechtsliberaler VVD, dem christlich-demokratischen CDA, den linksliberalen D66 und den Grünlinken zu ermöglichen. In diesem Beitrag möchte ich die weitere Entwicklung nachzeichnen.

Die Regierungsbildung oder „Formatie“, wie die Niederländer sagen, ist ein Theater, ein Pokerspiel. Direkt nach der Wahl waren die Parteien aufgefordert worden, „het landsbelang“, also das nationale Interesse über ihre egoistischen und wahltaktischen Interessen zu stellen. Doch das ist für viele Parteien nicht leicht. Nehmen wir zum Beispiel die Grünlinken: Sie hätten gern mitregiert, konnten sich aber keine großen Kompromisse leisten. In einem vornehmlich rechten „Motorblock“, wie die drei anderen Parteien genannt werden, die sich weitgehend einig sind, hätten sie kaum Gewicht gehabt. Die Sozialdemokraten, die in der noch geschäftsführenden Regierung sitzen, verloren bei den Wahlen 29 Sitze und wurden von der zweit- zur siebtstärksten Fraktion degradiert, weil ihr Profil für die Wähler neben Ministerpräsident Ruttes VVD nicht zu erkennen war. Die Grünlinken wollten sich dieses Schicksal in einer möglichen künftigen Regierung mit rechten Parteien ersparen und stellten daher hohe Anforderungen an ihre Teilnahme an der Regierung. So scheiterten trotz großer Bemühungen diese Verhandlungen.

Nun war allen Beobachtern klar, dass es eigentlich nur noch eine Möglichkeit gab: Die drei Parteien VVD, CDA und D66 mussten mit der orthodoxen Christenunie verhandeln. Diese partei ist gesellschaftlich rechts anzusiedeln, auf sozialökonomischem Gebiet kann sie aber durchaus mit sozialliberalen Positionen arbeiten. Überhaupt ist die Partei flexibler als ihr Ruf und hat schon einmal an der Regierung teilgenommen. Problem ist, dass sie in medizinisch-ethischen fragen, die für die D66 das Herzstück ihrer Regierungsbeteiligung sind, eine sehr konservative Einstellung vertritt. Die D66 wollen es Menschen über 75, die ihre Lebensaufgaben für erfüllt halten, ermöglichen, auf eigenen Wunsch selbst aus dem Leben zu scheiden, die Christenunie ist strikt dagegen. Alexander Pechtold, der Spitzenkandidat der D66, hielt denn auch eine Regierungsbeteiligung der Christenunie für nicht wünschenswert, zumal er sich lieber eine eher linke vierte Regierungspartei gewünscht hätte, um ein Gleichgewicht mit den eher rechten Parteien CDA und VVD zu erlangen. Doch im Grunde wussten alle, dass nach dem Ausscheiden der Grünlinken aus den Verhandlungen keine andere Möglichkeit mehr bestand, als es mit der Christenunie zu versuchen. Die sozialdemokratische PVDA hatte aus ihrer verhehrenden Wahlniederlage den Schluss gezogen, in jedem Falle in die Opposition zu gehen.

Folgerichtig ließ Gert-Jan Segers, der Chef der flexiblen Christenunie, seine Verhandlungspartner wissen, dass man auch über ein Gesetz über freiwillige Lebensbeendigung würde reden können. Damit schien nach wenigen ratlosen tagen die Lähmung gewichen, die die Verhandlungspartner erfasst hatte. Doch die Regierungsbildung ist ein absurdes Pokerspiel, bei dem die Akteure gleichzeitig um Inhalte eines gemeinsamen Regierungsprogramms und um ihre Existenz kämpfen. In Deutschland mit seinen verhältnismäßig wenigen Parteien kann man sich das kaum vorstellen, doch in den Niederlanden muss sich jeder Regierungspartner unbedingt in den Beschlüssen dieser Regierung genügend wiederfinden können, um nicht befürchten zu müssen, von seinen Wählern bis zur Vernichtung abgestraft zu werden. Offenbar hoffte also Alexander Pechtold, durch seine konsequente Weigerung, mit der Christenunie zusammenzuarbeiten, doch die Grünlinken unter Jesse Klaver noch zur Teilnahme an der Regierung bewegen zu können. Jedenfalls ließ er die Verhandlungen mit Gert-Jan Segers entgegen aller Erwartungen am 23. Mai platzen, obwohl dieser ihm entgegengekommen war. Man hätte die freiwillige Lebensbeendigung einer Enquete-Kommission zur Behandlung übertragen und für die nächste Kabinettsperiode vom Eis holen können. Damit hätten beide Kontrahenten ihr Gesicht gewahrt, und eine Regierung wäre trotzdem zustande gekommen. Doch Pechtold überzog sein Spiel, wie wir noch sehen werden. Jedenfalls sagte er nach wenigen Stunden der Verhandlung zwischen ihm und der Christenunie „nein“ zu deren Regierungsbeteiligung. Edith Schippers, die Informateurin, ermahnte alle Beteiligten noch einmal, ihre Standpunkte zu überdenken. Sie sprach es nicht aus, aber im Hintergrund lauerte die Drohung mit einem Minderheitskabinett oder Neuwahlen, die vermutlich kaum zu Verschiebungen führen würden. Nur die partei, der man die Schuld am Scheitern der Regierungsbildung zuschieben könnte, müsste schwere Verluste befürchten, die sich dann Geert Wilders, mit dem niemand regieren will, zunutze machen könnte. Alexander Pechtold musste sich den Vorwurf gefallen lassen, er habe jeden Vorwand gesucht, um die Verhandlungen platzen zu lassen, und der Vorwurf war berechtigt.

Als ihre Aufrufe keinen Erfolg hatten, gab Edith Schippers auf und gab den Auftrag, eine Koalition mit einer Mehrheit im Parlament zusammenzubringen, an die zweite Kammer zurück. Nach einer Debatte wurde Herman Tjeenk Willink zum neuen Informateur berufen. Tjeenk Willink ist Mitglied der PVDA, was aber nicht bedeutet, dass er nun antrat, um seine eigene Partei wieder in die Regierung zu bringen. Das Besondere an diesem Mann ist seine Laufbahn. Viele Jahre lang war er Vizepräsident des Staatsrates und damit engster Vertrauter und Berater der damaligen Königin Beatrix. Er hat ihr bei vielen Regierungsbildungen geholfen und war auch selbst schon Informateur. Als Vizepräsident des Staatsrates, des engsten Beratergremiums des Königs, wurde Tjeenk Willink auch oft der „Unterkönig“ oder „Vizekönig“ des Landes genannt. Interessant fand ich, dass man sich nun einen unparteiischen und überparteilichen Mann suchte, um die Regierungskrise zu lösen, also genau die Funktion, die früher die Königin ausgefüllt hatte. In einem Land mit so vielen parteien und Gruppierungen schien es also nicht ganz ohne überparteiliche Unterstützung zu gehen. Man könnte also getrost darüber nachdenken, dem König die Rolle, die das Staatsoberhaupt früher bei Regierungsbildungen spielte, zurückzugeben.

Das übliche Spiel begann aufs neue: Die Fraktionsvorsitzenden sprachen mit Herman Tjeenk Willink und legten ihm ihre Positionen dar, die nun inzwischen in enervierender Häufigkeit und Ausführlichkeit öffentlich bekanntgemacht worden waren. Neu war, dass der Informateur sich etwas ausführlicher zu seiner Aufgabe äußerte. Er wolle ein Regierungsprogramm schaffen, dass länger als die kommenden 4 Jahre bestand haben sollte, um die großen Probleme unserer Zeit anzupacken, vor allem die Klima- und Migrationspolitik. Mit Wahltaktik komme man nicht weiter, sagte Tjeenk Willink. Außerdem zitierte er aus einem Bericht des sozial-kulturellen Planungsbüros der Regierung, dass sich rund 30 % der Menschen von der Gesellschaft ausgeschlossen und vernachlässigt fühlten. Das erfordere mehr als nur wirtschaftliche Maßnahmen. Ein demokratischer Rechtsstaat müsse auch ein sozialer Rechtsstaat sein, meinte der Informateur. Während er nun Einzelgespräche führte, glaubten die Medien fest an eine Neuauflage der Gespräche des Motorblocks mit den Grünlinken, schlicht, weil es keine andere Möglichkeit mehr gebe. Und sie sagten voraus, dass diese Grünlinken nun, da sie absolut notwendig für die Regierungsbildung waren, ihre Forderungen erhöhen könnten. Derweil meldete sich auch der Bürgermeister von Rotterdam zu wort: Ahmed Aboutaleb, mitglied der Sozialdemokraten und gläubiger Muslim. Er plädierte dafür, eine Verhandlungsrunde mit CDA, VVD und Geert Wilders zu versuchen. Wenn sicher sei, dass dieses rechte Kabinett nicht klappen könnte, so müsste seine sozialdemokratische Partei neu über eine mögliche Regierungsbeteiligung nachdenken, meinte Aboutaleb. War dies eine versteckte Kritik an parteiführer Lodewijk Asscher, der unbedingt in die Opposition will, um von dort aus der Partei ein neues Profil zu geben?

Es dauerte eine knappe Woche, bis klar wurde, dass der Motorblock tatsächlich wieder mit den Grünlinken verhandelte. Premier Mark Rutte hatte allerdings von Anfang an nicht wirklich Lust auf diese Gespräche. In einem Interview ließ er wissen, das Problem sei auch, wer mit wem nicht auf dem Treppchen stehen wolle. Gemeint war, dass sich der Chef der Christenunie, Geert-Jan Segers, von Alexander Pechtold von den D66 dupiert fühlte, weil der ihn so schnell aus den Verhandlungen geworfen habe. Nur deshalb stimmte Rutte offenbar zu, noch einmal mit Jesse Klaver zu verhandeln. Der wiederum erklärte, er wolle noch einmal über Regierungsteilnahme nachdenken und mit größtmöglicher Offenheit in die Gespräche gehen. Am 7. Juni wurde bekannt, dass sich Rutte und Klaver bei Herman Tjeenk Willink daheim getroffen hatten. Es gab also keine offiziellen Verhandlungen, sondern Einzelgespräche zur Vorbereitung. Die Presse bekam Wind davon und stand in der Straße, in der Tjeenk Willink wohnt, darum fanden die Gespräche ab dem 8. Juni in der Amtswohnung des Ministerpräsidenten, dem sogenannten Catshuis, statt, nachdem sich Tjeenk Willinks Nachbarn über den Lärm der Presseleute beschwert hatten. Es waren, so versicherten alle, keine offiziellen Verhandlungen, sondern informelle Gespräche. Der Vorteil davon war, dass man auch inhaltlich verhandeln konnte, ohne die Spielregeln für offizielle Verhandlungen zu beachten, z. B. das informieren der Presse und ähnliches. Alle wussten, dass heftig und inhaltlich verhandelt wurde, aber eben nicht offiziell. Deshalb konnten die Verhandlungen auch nicht scheitern, sie wurden ja nicht offiziell geführt. Offenbar machte diese Konstruktion es den Gesprächspartnern am 12. Juni auch leicht, ihre Gespräche abzubrechen. Wieder war der Streitpunkt die Migrationspolitik, wo man einfach nicht auf einen grünen Zweig kam. Der Motorblock will mit afrikanischen Ländern Verträge wie mit der Türkei schließen. Die sollen gegen Geldzuwendungen Flüchtlinge aus dem Rest Afrikas an der Weiterreise nach Europa hindern und notfalls zurückschicken. Grünlinks wollte erreichen, dass die Niederlande mehr Flüchtlinge und Asylsuchende aufnehmen. Damit konnten sich CDA und VVD nicht anfreunden. Jesse Klaver und Alexander Pechtold mussten erkennen, dass sie zu viel gefordert, ihr Blatt sozusagen überreizt hatten. Da man notfalls immer noch Neuwahlen ansetzen könnte, was beiden Parteien vermutlich schaden würde, war ihre Position relativ schlecht. Und Alexander Pechtolds Hoffnung, Jesse Klaver könnte sich doch zur Regierungsteilnahme bereit finden, ohne seine Hauptforderungen erfüllt zu bekommen, war nun ebenfalls zerplatzt. Klaver wollte einfach nicht das nächste Opfer einer Koalition mit den Rechten sein. Während es zum grünlinken Jesse Klaver in Gert-Jan Segers von der Christenunie eine von den rechten parteien durchaus gewollte Alternative gab, konnte Pechtold sich aus den Verhandlungen nicht einfach zurückziehen, ohne mit einem Bedeutungsverlust rechnen zu müssen. Es blieb ihm nur, seinen Widerstand gegen eine Teilnahme der Christenunie so lang wie möglich aufrecht zu halten.

Herman Tjeenk Willink hatte es nicht leicht. Er musste die parteiführer dazu bringen, selbst einzusehen, welche Lösung es für sie gab, um zu einer Mehrheitsregierung zu finden. In der Öffentlichkeit wurde viel über eine Minderheitsregierung gesprochen, aber die wäre, im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern, in der politischen Kultur der Niederlande nicht stabil und würde zu sehr großer Unsicherheit in Bevölkerung und Wirtschaft führen. Deshalb will man sie so gut es geht vermeiden. Also ließ der Informateur noch einmal die parteiführer ihre Positionen schriftlich und verbindlich festlegen. Emile Roemer von der sozialistischen Partei sagte eindeutig, er werde nicht mit einer Koalition zusammenarbeiten, an der die rechtsliberale VVD von Mark Rutte beteiligt ist. Das sagt er schon seit vor der Wahl, es war keine Überraschung. Die Parteien des sogenannten Motorblocks wollten auf keinen Fall mehr mit den Grünlinken regieren, zweimal war der Versuch gescheitert. Die Sozialdemokraten hielten an ihrer aussage fest, unbedingt in die Opposition gehen zu wollen, teilten dies aber nicht schriftlich mit, was unter Umständen später noch einmal wichtig sein könnte. Denn Gert-Jan Segers von der Christenunie verlangte zunächst eine schriftliche Aussage der Sozialdemokraten, dass sie unter keinen Umständen an der Regierung teilnehmen würden, bevor er sich selbst trotz der von ihm so empfundenen Beleidigung durch Alexander Pechtold zu erneuten Verhandlungen bereit fand. Diesen Brief bekam Segers zwar nicht, doch Lodewijk Asscher wiederholte gegenüber dem Informateur, dass seine partei auf keinen Fall an der Regierung teilnehmen wollte. Es war die letzte Hoffnung für Alexander Pechtold gewesen, dass vielleicht doch noch eine halbwegs linke partei an der Regierung teilnehmen würde. Diese Hoffnung war nun zerstört, Pechtold, eigentlich ein sehr erfahrener Politiker, hatte sein Pokerspiel verloren.

Am 21. Juni wurde es nun offiziell: VVD, CDA und D66 verhandeln mit der Christenunie. Das hätte man schon vor fast 2 Monaten wissen können. Alexander pechtold muss sein wichtigstes Vorhaben, die freiwillige Lebensbeendigung, vermutlich auf die nächste Legislatur verschieben, denn er hat meiner Ansicht nach kaum noch Kraft, eigene Belange durchzusetzen. Auch wenn man das Thema ihm zuliebe nicht gänzlich fallen lassen wird, gibt es vermutlich keine Entscheidung dazu. Nach einem gemeinsamen Essen mit Gert-Jan Segers erklärte sich Pechtold mit Verhandlungen einverstanden. Damit hatte Herman Tjeenk Willink seine Aufgabe erfüllt und trat ab. Neuer Informateur wurde Gerrit Zalm von der VVD. Zalm, was übrigens auf deutsch „Lachs“ bedeutet, ist ein erfahrener Politiker, ein klassischer Rechtsliberaler und langjähriger Finanzminister. Man traut ihm zu, endlich die lang ersehnte Regierung zustande zu bringen, die noch vor dem sogenannten Prinsjesdag im September ihre Arbeit aufnehmen und einen Haushalt für das kommende Jahr erarbeiten soll.

Während der letzten Tage forderte übrigens Andreas Kinneging, ein Politikwissenschaftler, die Einführung einer 5-%-Hürde in den Niederlanden. Damit wären 6 der derzeit 13 parteien nicht mehr im Parlament vertreten, und VVD, CDA und D66 hätten auch ohne eine vierte partei die Mehrheit gehabt. Das ist zwar richtig, doch es würden sich mehr als 15 % der Wählerinnen und Wähler nicht mehr im Parlament vertreten fühlen. Vorläufig scheidet eine solche Wahlrechtsänderung jedenfalls aus.

Im März jubelte ganz Europa, man habe in den Niederlanden den Populismus besiegt. Doch je länger die Regierungsbildung dauert, desto mehr Kapital könnte Geert Wilders aus dieser Krise schlagen, falls sie doch mit Neuwahlen enden sollte.

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