Die spanische Regierungspartei Partido Popular (PP) schiesst aus allen Rohren gegen den Richter, der sich weigert, die Organisatoren der Madrider Demonstrationen vom 25. September anzuklagen. Man könne nicht nachvollziehen, warum die Beschuldigungen archiviert wurden, heisst es. Die wirklich schweren Geschütze jedoch packt die PP gegen einen Satz in den Gerichtsakten aus, in dem Richter Santiago Pedraz von der “Dekadenz der politischen Klasse” spricht. Dafür durfte er sich jetzt als “spiessiger Anarchist” bezeichnen lassen, dessen Verhalten “unmöglich und untolerierbar” sei.
Um solche Pfeile abzuschiessen, die es in Spanien in dieser Heftigkeit gegen einen Richter der Audiencia Nacional noch nie gegeben hat, packte Rajoys Regierungspartei einen Hinterbänkler aus. Der stellvertretende Parteisprecher Rafael Hernando aus Almería fühlte sich (oder wurde) berufen, den Richter öffentlich niederzumachen. Er zweifelte nicht nur die Kapazität des Richters an und wollte ihn verantwortlich machen für “jede Art der Bedrohung oder Aggression, die irgendeinem Staatsvertreter ab jetzt passieren kann”; auch in seiner sonstigen Wortwahl hielt sich der PP-Mann nicht zurück.
Von “nicht akzeptabel” über “nicht vorzeigbar” (“impresentable” klingt im Spanischen weit unangenehmer), “unanständig” bis hin zum “spiessiegen Anarchisten” ging die Schimpfkanonade. Weil man sich nicht wirklich traute, die Entscheidung der unabhängigen Justiz öffentlich anzugreifen, die Eröffnung eines Verfahrens gegen die Organisatoren des 25-S abzulehnen, musste ein anderer Satz aus den Gerichtsakten herhalten, um die Angriffe gegen einen Richter der Audiencia Nacional zu rechtfertigen. Santiago Pedraz hatte Archivierung begründet mit der der Meinungsfreiheit der Proteste “besonders in Zeiten der Dekadenz der sogenannten politischen Klasse”.
Frei und ohne Klageverfahren: Die Beschuldigten nach der Anhörung durch Richter Santiago Pedraz verlassen erleichtert den Gerichtssaal.
Dieser Satz brachte ihm auch kritische Stimmen von Politikern anderer Parteien ein. Doch nur die PP benutzte die Wörter für einen ungebremsten Generalangriff auf Santiago Pedraz, nachdem der Richter den Plan, die Organisatoren des 25-S zu kriminalisieren, so gründlich zunichte gemacht hatte. Auch wenn die Dekadenz der politischen Klasse für jeden offensichtlich sein mag, so war es vermutlich nicht besonders clever vom Richter, diesen Satz in die Gerichtsakten zu schreiben, weil er sich damit unnötig positioniert und angreifbar gemacht hat. Klüger, auch im Hinblick aufzukünftige Entscheidungen, wäre es gewesen, die Klage trocken und kommentarlos abzuschmettern. Doch auch das rechtfertigt keinesfalls die persönlichen Diffamierungen durch die Partido Popular.
So sah das auch das oberste Richtergremium Spaniens, dessen Sprecherin Gabriela Bravo heute klar Position bezog: “Kritiken, die in den persönlichen Bereich gehen und die Würde eines verfassungsmässig garantierten Amtsträgers angreifen, sind nicht zu tolerieren und haben sofort aufzuhören!” – Daraufhin ruderte Hernando dann auch halbherzig zurück. Er habe sagen wollen, der Richter habe wie ein spiessiger Anarchist gehandelt, schwadronierte der PP-Politiker in einem nachträglichen Interview, nicht etwa, dass er einer sei. Seine Aussagen möge man als “Beurteilung” werten nicht etwa als persönliche Beleidigung.
Wie das immer so ist, drängeln sich jetzt Politiker im Minutentakt vor die Mikrophone. Alle müssen unbedingt ihr unverzichtbares Statement zur Sache loswerden. Dabei bemüht sich vor allem die PP, nach aussen “den Respekt gegenüber Justiz” zu verkaufen und gleichzeitig Richter Santiago Pedraz als Feind zu brandmarken, der staatliche Institutionen, Recht und Ordnung angreift mit seinen Entscheidungen. Währenddessen ist es interessant zu beobachten, wie der Streit auch unter den Richtern Spaniens tobt. Während die von der PP eingesetzten Robenträger Pedraz´ Äusserungen für “überflüssig” oder “schädlich” halten und damit gewisses Verständnis für die Angriffe gegen den Kollegen signalisieren, verteidigen die von den Sozialdemokraten bestimmten obersten Richter Santiago Pedraz und pochen auf die Unabhängigkeit der Justiz.