Rechtsstaatliche Verrohung

Verwunderlich ist es vermutlich nicht, dass in einem Land, in dem die Regierungschefin Freude darüber zeigt, dass man einen Verbrecher gnadenlos hinrichtete, das rechtsstaatliche Verständnis am Boden liegt. Wo selbst die politische Hautevolée keinerlei rechtsstaatlichen Überblick mehr besitzt, da kann darf es nicht verdutzen, dass die Medienlandschaft in diese Richtung abstumpft - oder ist es andersherum? Ist die High-Society so rechtsstaatlich abgestumpft, weil sie täglich bei Springer und Partner liest?

Kürzlich ging ein Aufschrei durch Deutschland. Ein junger Mann hat einen anderen jungen Mann derart brutal niedergetreten, dass dieser schwer geschädigt ins Krankenhaus eingeliefert werden musste - dokumentiert wurde der Vorfall von einer Überwachungskamera. Der Schläger kam vor den Haftrichter und wurde von diesem nicht in Untersuchungshaft gesteckt. Umgehend witterte der (Boulevard-)Journalismus einen Skandal und rüffelte die Laxheit deutscher Juristen, die gefährliche Gewalttäter nicht von der Öffentlichkeit absondern. Zum Schutz der Allgemeinheit, so schrieb Feuilleton und Leitartikel, müssen solche Subjekte weggesperrt werden - ohne viel Federlesens, ab in die Untersuchungshaft. Der Richter, der den jungen Mann nicht in Gewahrsam nehmen ließ, erntete bitterböse Kommentare, denn immerhin würde er die Bürger unnötiger Gefahr aussetzen und den Brutalo nicht angemessen bestrafen. Freilich ernteten solcherlei Artikel den Beifall der Leser - und die Kommentar- und Leserbriefspalten platzten fast vor Lob.

Das rechtsstaatliche Verständnis liegt in tiefer Agonie, wenn wir schon wieder so weit sind, dass man Menschen ohne ordentlichen Gerichtsprozess inhaftieren möchte. Sicherlich, die besorgten Bürger, die sich da so keifend über den aus dem Ruder geratenen Rechtsstaat auslassen, sie wissen ohnehin nicht, dass die Untersuchungshaft primär zur Sicherung des Strafverfahrens gilt. Zwar kennt die Strafprozessordnung auch die Untersuchungshaft aufgrund Wiederholungsgefahr, diese muss aber - wie auch bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr - der Tat angemessen sein. Dies bedeutet, dass unter Umständen eine Meldepflicht bei der Polizei völlig ausreichend sein kann. In der Öffentlichkeit wurde zwar erläutert, dass der besagte Richter so entschieden hätte, weil der junge Mann, der noch Schüler sei, nie zuvor bei der Polizei auffällig wurde und in stabilen sozialen Verhältnissen lebt - womit Wiederholung oder aber auch Flucht so gut wie ausgeschlossen seien -, aber der Ruf nach einer repressiveren Inhaftierungsmentalität verstummte deshalb noch lange nicht.

Die Untersuchungshaft ist keine Strafe, sie ist nicht mit einer möglichen Haft nach einer gerichtlichen Verhandlung gleichzustellen - dennoch mokierte sich die Öffentlichkeit, weil man diesen Rowdy trotz seiner Tat laufen ließ. "Trotz seiner Tat", was suggeriert: die Öffentlichkeit glaubt, die Untersuchungshaft sei bereits als Strafe anzuwenden, die der Haftrichter verhängen sollte - doch die Kriterien ob Haft oder nicht, sie richten sich nicht grundsätzlich nach der Schwere der Tat, was der öffentlichen Stimmungsmache allerdings überhaupt keinen Abbruch tat.

Wir machen uns als Gesellschaft auf den Weg zu einem Abbau rechtsstaatlichen Empfindens. Alle drei bis vier Monate werden strengere Gesetze gegen straffällig gewordene Kinder gefordert - macht man einen Schläger zum Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung, so will man diesen am liebsten ohne Prozess einbuchten - und die Kanzlerin in ihrer ethischen Beschränktheit, sie applaudiert, wenn man einen Verbrecher nicht vor Gericht stellt, ihn stattdessen lyncht. Das alles geschieht unabhängig voneinander - und doch ist es dieselbe traurige Entwicklung zu einer Verrohung und Entmenschlichung der Justiz und des Strafvollzugs einerseits, eine dramatische Reifung des undenkbaren Gedankens, einen modernen Rechtsstaat vielleicht doch mit einer Hinwendung zur Todesstrafe auszustatten andererseits. Wenn letzteres nicht grundsätzlich, so doch in seltenen, besonders gravierenden Fällen.

Was peu a peu verlorengeht ist die Einsicht aus der philosophischen und später soziologischen Aufklärung, dass der Täter trotz allem ein Mensch bleibt - und als dieser sei er zu behandeln. Dass an Stammtischen lauthals nach Todesstrafe, Kerkerhaft und "endlosem Lebenslänglich" verlangt wird, das ist prahlerische Normalität in dieser Republik. Dass sich eine Regierungschefin jedoch hinstellt und das "Prinzip Rache" zu einem Freudenmoment verklärt, das ist unglaublich und eigentlich kürzlich noch undenkbar gewesen. Wir verrohen zusehends und die Kanzlerin verroht kräftig mit - was blüht uns, was dem Rechtsstaat in einem roher und roher werdenden Klima?


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