Rechtsfrieden wieder hergestellt?

Rechtsfrieden wieder hergestellt?Der Deutsche Bundestag hat am Mittwochnachmittag in abschlie­ßen­der Lesung den von der Bundesregierung vor­ge­leg­ten Gesetzesentwurf zur Legalisierung von Knabenbeschneidungen mit gro­ßer Mehrheit ange­nom­men. Damit wird nach der für Freitag die­ser Woche zu erwar­ten­den Zustimmung des Bundesrates der Weg frei­ge­macht, dass am 1. Januar 2013 das von jüdi­schen und mus­li­mi­schen Religionsvertretern ver­langte Gesetz in Kraft tritt.

Von inge­samt 580 abge­ge­be­nen Stimmen ent­fie­len 434 auf den Entwurf der Bundesregierung, 100 Abgeordnete stimm­ten gegen ihn, 46 Enthaltungen wur­den gezählt. Damit stimm­ten mehr Abgeordnete gegen die­sen Entwurf als für den alter­na­ti­ven Gesetzentwurf, der 91 Ja-Stimmen erhielt. (3 Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion haben gegen den Gesetzesentwurf der Bundesregierung gestimmt, 3 wei­tere sich ent­hal­ten, dem Regierungsentwurf zuge­stimmt haben 89 Abgeordnete der SPD, dar­un­ter die gesamte Partei- und Fraktionsspitze, 34 Abgeordnete der Grünen, dar­un­ter Volker Beck, Kathrin Göring-Eckhardt, Bärbel Höhn, Tom Königs, Renate Künast und Claudia Roth (wäh­rend Jürgen Trittin sich ent­hal­ten hat), und 17 der Linken, dar­un­ter Roland Claus, Gregor Gysi, Lukrezia Jochimsen und Petra Pau. (Quelle)

„Für Juden und Muslime in Deutschland herrscht künf­tig wie­der Rechtssicherheit“, teilte am spä­ten Mittwochnachmittag der Bundestag mit, erwähnte aller­dings nicht, wel­cher Preis dafür zu zah­len ist.

Eltern“recht“ über Kinderrecht

Gesetz ist das gewor­den, was jüdi­sche und mus­li­mi­sche Religionsvertreter in den letz­ten Monaten vehe­ment gefor­dert haben: die Legalisierung der bis­he­ri­gen Beschneidungspraxis ohne Wenn und Aber. Die Entscheidung über die Amputation der Vorhaut ihres Sohnes liegt jetzt aus­schließ­lich bei den Eltern, deren Motive weder offen­ge­legt noch über­prüft wer­den, der Betroffene hat nicht ein­mal die Chance einer Mitbestimmung in die­ser Angelegenheit und die jüdi­sche Community hat auch noch ihre Zusatzregelung bekom­men: Beschneidungen eines Kindes in den ers­ten sechs Lebensmonaten sind durch einen Mohel zuläs­sig, der nicht ein­mal Arzt geschweige denn Urologe oder Kinderarzt sein muss.

Dem alter­na­ti­ven Gesetzentwurf, der für Knabenbeschneidungen ein Mindestalter von 14 Jahren for­derte und eine aus­drück­li­che Zustimmung des Betroffenen sowie seine Einsichts- und Urteilsfähigkeit in die­ser für sein gesam­tes wei­te­res Leben bedeut­sa­men Angelegenheit for­derte, wurde eine Abfuhr zuteil. Weder die Juden noch die Muslime noch die Mehrheit des Bundestages hiel­ten es auch nur für nötig, sich mit die­sem Entwurf zu beschäf­ti­gen.

Es fehlte über­haupt schon der Wille zu einer kon­struk­ti­ven Debatte über diese in der gesam­ten deut­schen Gesellschaft hoch­um­strit­te­nen Angelegenheit; der Wille zum Kompromiss fehlte erst recht. „Wir machen wei­ter!“ hieß es seit Beginn der öffent­li­chen Debatte nach dem Urteil des Landgerichts Köln im Mai die­ses Jahres ste­reo­typ aus jüdi­schen Kreisen, und zwar ohne Rücksicht auf die Rechtsordnung – ein Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft war zu kei­nem Zeitpunkt gewünscht.
Zurückhaltender im Ton die mus­li­mi­schen Religionsvertreter, wis­sen sie doch, dass sie gegen­über den Juden eben nur Beschneidungsbefürworter min­de­ren Ranges sind und (des­halb) zurück­hal­ten­der tak­tie­ren müs­sen. Ein Wille zum Dialog – auch bei ihnen nicht erkenn­bar. Dabei hät­ten sie dem alter­na­ti­ven Gesetzesentwurf – unter Beachtung ihrer reli­giö­sen Auffassungen – durch­aus zustim­men kön­nen; es gibt keine isla­mi­sche Regel, die einer Verschiebung der Beschneidung auf das Alter von 14 Jahren ent­ge­gen­steht.

Dogmatische Religiosität, oft im Gewand wohl­klin­gen­der mora­li­scher Leitsätze daher­kom­mend, zeigt hier das wahre Gesicht: Sturheit ver­bun­den mit Besserwisserei, Ignoranz gegen­über Fakten und moder­nen Erkenntnissen aus Medizin, Psychologie und Traumaforschung, Über­heb­lich­keit gegen­über dem, was Betroffene zu berich­ten haben, und das Ansinnen an die Mehrheitsgesellschaft, die Rechtsordnung so zu gestal­ten, dass sie den reli­giö­sen Vorstellungen ange­passt ist. Die ultra­or­tho­do­xen Juden in Israel und der ira­ni­sche Gottesstaat las­sen grü­ßen.

Menschenrechte zwei­ter Klasse

Der Preis für die „Rechtssicherheit“ der Ritualverfechter: Knaben in Deutschland haben jetzt bis zum Alter von 18 Jahren nur noch Menschenrechte 2. Klasse, Grundrechte min­de­rer Bedeutung, jeden­falls, was das Recht auf kör­per­li­che Unversehrtheit und das Recht auf Selbstbestimmung angeht. Und keine Behörde und kein Gericht schützt sie! Sie sind (über die neue Regelung zum Sorgerecht der Eltern im Bürgerlichen Gesetzbuch) blo­ßes Objekt elter­li­cher Wünsche und Vorurteile, sie sind elter­li­cher Willkür aus­ge­setzt. Für die Beurteilung von Knabenbeschneidungen ist das „Wohl des Kindes“ kein Maßstab mehr.

Gesellschaftlicher Konsens in Deutschland war bis­her, dass Menschenrechte allen Individuen glei­cher­ma­ßen zuste­hen, unab­hän­gig von Herkunft, Sprache, Hautfarbe und Geschlecht und dass sie uni­ver­selle Geltung haben. Dieser Konsens hat jetzt einen Riss bekom­men: Menschenrechte haben hier­zu­lande unter­schied­li­che Bedeutung, unter­schied­li­che Stärke, je nach­dem, ob eine männ­li­che Person über oder ob sie unter 18 Jahre alt ist. Die einen wol­len nur Menschenrechte unter vor­ran­gi­ger Berücksichtigung asia­ti­scher, afri­ka­ni­scher, isla­mi­scher „Werte“ akzep­tie­ren, die ande­ren wer­ten das Elternrecht auf Beschneidung ihres Sohnes höher als die Menschenrechte – so wer­den Menschenrechte rela­ti­viert.

Religiöses Sonderrecht

Der Deutsche Bundestag ist sei­ner Aufgabe, die grund­ge­setz­lich geschütz­ten Werte der Gesellschaft stets zu ver­tre­ten und keine Gesetze zu ver­ab­schie­den, die die­sen Werten wider­spre­chen, nicht nach­ge­kom­men. Einerseits: Religionsfreiheit ist garan­tiert und zu schüt­zen; ande­rer­seits: dies bedeu­tet aber nicht, der Religionsfreiheit wegen die Grundrechte von Kindern in ihrer Schutzwirkung ein­schrän­ken zu dür­fen. Religionen haben sich in Deutschland inner­halb der Rechtsordnung, inner­halb des vom Grundrechtskatalog des Grundgesetzes vor­ge­ge­be­nen Rahmens zu bewe­gen. Sie haben keine Sonderposition außer­halb der Verfassung. Hierfür das Verständnis in Gesellschaft und Politik zu schär­fen, wird eine der dring­lichs­ten Aufgaben der nächs­ten Zeit sein.

Die jetzt ver­ab­schie­dete Gesetzesregelung ent­hält aber auch etwas, was bis­lang kaum beach­tet wor­den ist. Marcus Tiedemann hat vor zwei Tagen in der Frankfurter Rundschaunach­drück­lich dar­auf hin­ge­wie­sen, dass ein Staatswesen, das Kindern einer bestimm­ten Bevölkerungsgruppe weni­ger Schutz ange­dei­hen lässt als ande­ren, imma­nent ras­sis­tisch sei. Wesenskern des Rassismus (sowohl in der Form des Verfolgungsrassismus als auch in der Form des Unterlassungsrassismus) sei die Reduktion des Individuums auf seine Zugehörigkeit zu einer eth­ni­schen oder kul­tu­rel­len Gruppe. Auch im Unterlassungsrassismus werde das Individuum auf seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe redu­ziert. Die Faustregel des Unterlassungsrassismus, so Tiedemann, laute: „Wir schüt­zen deine Menschenrechte nicht, weil du einer bestimm­ten Gruppe ange­hörst!“ Dies alles ist in der Hektik, mit der das Legalisierungsgesetz zusam­men­ge­schus­tert wor­den ist, nicht be- und nicht durch­dacht wor­den. Nun haben wir den Schlamassel, in den die Religionsvertreter und ihre eil­fer­ti­gen Unterstützer in der poli­ti­schen Klasse die deut­sche Gesellschaft hin­ein­ge­trie­ben haben.

Es wäre eine schier aus­weg­lose Situation, wenn da nicht die Eltern, die Familien in der jüdi­schen und der mus­li­mi­schen Community wären, die sich auf den Weg gemacht haben – Gesetz hin, Gesetz her – aus der Tradition aus­zu­stei­gen, das archai­sche Ritual nicht mehr zu prak­ti­zie­ren. Eine sol­che Entwicklung ist im Gange und sie ist durch die öffent­li­che Diskussion der letz­ten Monate beför­dert wor­den. Diese Entwicklung ist unum­kehr­bar.

Reaktionen

Nicht ohne Grund hat die Jüdische Allgemeine in den letz­ten Tagen, zu einem Zeitpunkt als das heu­tige Ergebnis der Abstimmung im Bundestag deut­lich vor­her­seh­bar war, noch ein­mal alle Register gezo­gen und die jüdi­sche Geschichte beschwo­ren unter dem Titel „Auch bei den Makkabäern ging es vor mehr als 2000 Jahren um Beschneidung und Religionsfreiheit“. Der Autor, ein Rabbiner, bemüht sich um Erklärungen und weist dar­auf hin, dass die „erklär­ten Feinde des Judentums … sich stets als fort­schritt­lich und auf der ‚rich­ti­gen‘ Seite aus (gaben) , ob unter reli­giö­sen, ras­si­schen oder ‚zivi­li­sa­to­ri­schen‘ Vorzeichen.“ Er setzt – mit einem selt­sa­men Geschichtsverständnis – die dama­lige seleu­ki­di­sche Besatzungsmacht mit den (heu­ti­gen) Vertretern von Menschenrechten gleich, indem er kom­plexe unter­schied­li­che gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Verhältnisse in Bezug zur Knabenbeschneidung setzt, und so – ohne tie­fer­ge­hen­des Verständnis unter­schied­li­cher Zeiten und Kulturen – ober­fläch­lich ver­meint­lich Gemeinsames kon­stru­iert.

Er heroi­siert das Judentum als auf der Seite des Lebens ste­hend: „Unsere west­li­che Kultur ist bis heute von zwei sich gegen­sei­tig aus­schlie­ßen­den Traditionen geprägt: der des Todes und der des Lebens. Schon in der Antike posi­tio­nierte sich das Judentum ein­deu­tig auf der Seite des Lebens“, und dif­fa­miert das Nichtjudentum, wozu selbst­re­dend die Kritiker von Knabenbeschneidungen zu rech­nen sind, als auf der Seite des Todes ste­hend. Offenbar ist es jetzt nötig, die Moral der eige­nen Truppe zu stär­ken und Abweichler an die Kandare zu neh­men, mora­li­schen Druck auf sie aus­zu­üben. In der jüdi­schen Community ist die Knabenbeschneidungspraxis tat­säch­lich doch nicht so unum­strit­ten, wie es uns die jüdi­schen Meinungsführer in den letz­ten Monaten haben glau­ben machen wol­len. Das deu­tete sich vor kur­zem bereits in einem Artikel bei haolam.de an. Und durch die öffent­li­che Debatte seit Mai die­ses Jahres sind viele neue Daten und Fakten ver­brei­tet wor­den, die den kri­ti­schen Diskussionen in der jüdi­schen Community Material und Auftrieb geben.

Die Äuße­run­gen im aktu­el­len Artikel in der Jüdischen Allgemeinen ähneln dem berühm­ten Pfeifen im Wald. In der ver­meint­li­chen Stunde des Sieges scheint manch Triumphierenden die dunkle Ahnung zu erei­len, dass es doch nur ein Pyrhussieg sein könnte.

[Erstveröffentlichung: hpd]


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