Gehört zum unveräußerlichen Recht auf Leben auch das Recht auf einen selbstbestimmten Tod? Darüber streiten sich seit Jahrzehnten nicht nur die Philosophen, sondern auch die Politiker, Vertreter der Kirchen und sogenannte fortschrittliche Humanisten. Eine eindeutige Antwort gibt es offenbar nicht.
In Deutschland wird am lautesten der christliche Standpunkt vertreten, verbunden mit dem Fingerzeig auf die Nazi-Zeit und die grausamen Euthanasieprogramme. Das Leben gehöre nicht dem Menschen, sondern Gott, heißt es, und nur er habe zu entscheiden, wann es gegeben und wann es genommen werde. In einigen Nachbarländern wie beispielsweise den Niederlanden und Belgien, rühmt man sich eines humaneren und fortschrittlicheren Umgangs mit dem Thema. Was für einen Sinn, was für eine Würde hat menschliches Leben noch, wenn es nur durch technokratisch inhumane medizinische Methoden aufrecht erhalten wird, und wenn es für den Betroffenen nur noch eine einzige Qual ist? Ist dann der erwünschte Tod nicht eine Erlösung? Ist das nicht menschlich und ethisch vertretbar und geboten? Sind die Christen nicht weltfremd mit ihrer Beharrung auf der Leidenspflicht des Einzelnen?
Ich selbst bin kein Christ. Doch als mir ein Freund aus den Niederlanden voller Dankbarkeit von der Sterbehilfe für seinen totkranken und schwer leidenden Vater berichtete, ergriffen mich zwiespältige Gefühle. Gewiss: Für diesen Mann wurde das Leiden verkürzt, er selbst und seine Angehörigen empfanden die Sterbehilfe als Bewahrung seiner Würde. Mein Freund empfand Erleichterung über die Hilfe und gleichzeitig Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen, dessen Entscheidung er aber akzeptierte. Doch ich kann mir Familien vorstellen, in denen Angehörige alte und kranke Menschen vorsichtig zu dieser Lösung drängen, um ihnen die jahrelange Last der Pflege zu ersparen. Und in Familien, wo das Verhältnis weniger gut ist als in der Familie meines Freundes, kann ich mir auch Neid und Habsucht vorstellen.
Wo fängt das eigene Entscheidungsrecht an, und wo hört es auf? Wenn nicht ein barmherrziger Gott über das Lebensende jedes Einzelnen entscheidet, sollen und können wir es dann einem Zufall, der Laune des Lebens überlassen?
Und dann ist da der Fall in Belgien, der mich zutiefst schockierrt und aufgewühlt hat. Belgien kennt das “Recht zu Sterben”, wenn Betroffene ein unzumutbares körperliches oder seelisches Leiden empfinden. Kurz vor Weihnachten 2012 ließen sich zwei 47jährige Zwillingsbrüder eine tödliche Injektion verabreichen, weil bei ihnen zusätzlich zur angeborenen Taubheit nun auch schnell voranschreitende Blindheit diagnostiziert wurde. Dies war für die beiden Männer, die bislang ihr Leben gemeinsam gemeistert hatten, offenbar so erschreckend, dass sie den Ausweg des staatlich sanktioniertten Freitodes wählten.
Vielleicht werden einige von Ihnen nun sagen, dass dies doch tatsächlich die beste Lösung ist, und dann antworte ich Ihnen, dass es genau das ist, was mich erschreckt. Taubblindheit ist zweifellos eine schwere Behinderung, aber es gibt heutzutage viele taubblinde Menschen, die ihr Leben mehr oder weniger selbstständig führen und konsequent die Hilfsmittel nutzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Sie können sich verständlich machen, mit Hilfe von Computern und Brailleschrift kommunizieren, oder mit Hilfe des Lormens, einer speziellen Gebärdensprache durch Berührung. Es ist für sie möglich, ein erfülltes Leben inmitten einer Familie oder eines Freundeskreises zu führen. Die Voraussetzung ist allerdings, dass die Menschen ihrer Umgebung sich auf ihre Art der Kommunikation einlassen und dort Hilfestellung geben, wo sie nun einmal dringend erforderlich ist, im Straßenverkehr beispielsweise. Die beiden Männer aus Belgien aber haben für ihr Leben keine Perspektive mehr in dieser Gesellschaft gesehen, obwohl es diese Perspektive wohl gegeben hätte.
Das ist die grausame und negative Entwicklung die mit der Liberalisierung der Sterbehilfe einher geht. Wenn der Tod ein möglicher Ausweg ist, muss sich die Gesellschaft nicht mehr bemühen, für hilfsbedürftige Menschen das Leben weiterhin lebenswert zu gestalten. Schließlich hat man ja mit der eigenen beruflichen Karriere, mit persönlichen Beziehungen und immerwährenden Finanzkrisen genug zu tun. Sollen die Menschen, denen das Leben in dieser zunehmend komplizierten Welt immer schwerer wird, doch den Ausweg des würdigen Todes wählen. Viele Menschen scheinen das für human zu halten. In Wahrheit verstecken sich hinter der Fassade von Menschlichkeit die unmenschliche Hast, das aufgezwungene Streben des Vorwärtskommens und teilweise auch Gleichgültigkeit gegenüber in Not geratenen Mitmenschen. Der schmerzlose Tod für Schwerstbehinderte ist doch ein Ausweg, glauben manche, und vermutlich denken einige ganz leise auch an die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, die man damit eindämmen kann.
Wenn wir ein Recht zu Sterben als gegeben annehmen wollen, und ich selbst will keineswegs so weit gehen, aber wenn wir so denken wollen, dann muss das Recht auf Leben immer den Vorrang haben. Das Recht auf den Tod muss ein Ausnahmerecht sein, nachdem alle Möglichkeiten für ein menschenwürdiges Leben ausgeschöpft sind. In Belgien hat die Gesellschaft versagt. Sie hat es nicht vermocht, zwei verzweifelten Männern die möglichen Lebensperspektiven aufzuzeigen und es ihnen zu ermöglichen, in ihrem gewohnten Umfeld ein Leben in Würde zu führen. Man hat ihnen den Weg eröffnet, der ihnen die größte Kostbarkeit nahm, die man sich überhaupt vorstellen kann: Das Leben selbst. Dies ist ein Dammbruch, den wir noch kaum ermessen können. Künftig wird es irgendwo auf der Welt, und sei es vorerst nur in Belgien, möglich sein, Menschen wegen einer Behinderung zu töten, die weder körperlich noch seelisch so schwerwiegend ist, dass ein gut organisiertes aber erfülltes Leben nicht mehr möglich wäre. Diese beiden Männer hätten in ihrer eigenen Wohnung leben, sich ihre Mahlzeiten zubereiten, Zeitung lesen können, es wäre ihnen mit einem gewissen Aufwand möglich gewesen, mit jedem Menschen in Kommunikation zu treten, und mit entsprechender Unterstützung hätten sie ihre Einkäufe erledigt, einen Beruf ausgeübt und ihren Lebensunterhalt verdient. Dies alles ist ihnen nun nicht mehr möglich, weil man ihnen das Recht auf Leben mit entsprechender Unterstützung verweigerte, weil man ihnen keine Perspektiven bot. Dies ist ein Skandal, über den man sich empören kann, vor allem macht diese Entwicklung aber angst. Wann wird es so weit sein, dass man blinden Menschen das lebensrecht verweigert, weil die Stöcke und das Mobilitätstraining zu teuer sind? Wann wird man gehörlosen Menschen den Tod empfehlen, weil ja ohnehin nicht jeder Mensch die Gebärdensprache kann, und weil Gebärdensprachdolmetscher einen großen, teuren Aufwand darstellen?
Ich sage und bitte euch: Wehret den Anfängen und schützt das Lebensrecht kranker und behinderter Menschen!
Nachtrag: Nach und nach werde ich hier Links einfügen.