Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
Die Vermutung, dass diese Leute einfach sturzbekloppt seien, ist auf gefährliche Weise falsch, und das beweist ausgerechnet Hans-Georg Maaßen. Dem kann man viel nachsagen, aber mangelnde Intelligenz gehört definitiv nicht dazu, im Gegenteil. Maaßen hat mit seiner bestürzenden Rede vor europäischen Geheimdienstchefs gezeigt, dass er nicht bloß Verschwörungstheoretiker ist - sondern Verschwörungsideologe. Anders lässt sich "Linksradikalismus" in der SPD - der Partei gewordenen Pendlerpauschale - schlicht nicht erkennen. Das ist keine Verschwörungstheorie mehr über Juso-Kevin, der den sozialistischen Umsturz plant zur Errichtung eines protomarxistischen Kühnertismus. Nein, das ist Ideologie. [...] Denn es geht bei einer Verschwörungsideologie nicht darum, was genau man glaubt - sondern um die Rechtfertigung der eigenen Reaktion darauf. Verschwörungsideologien wollen keine Erklärungen für die Geschehnisse und Verwerfungen in dieser Welt, das ist nur austauschbares Mittel zum Zweck. Verschwörungsideologien bestimmen das Handeln ihrer Anhänger, um vermeintliche Gegenmaßnahmen zu legitimieren, die Basis jeder Opfererzählung. Das macht sie so gefährlich - denn in jeder Verschwörungsideologie ist automatisch ein Appell zur Aktivierung und Mobilisierung verborgen: Verbreite mich weiter, werde aktiv, vernetze dich, organisiere dich, wehre dich! Es ist kein Zufall, dass Maaßen in die Politik gehen möchte, es ist im Gegenteil die Erfüllung seiner Weltsicht. [...] Verschwörungsideologien führen zur Autokratie, sie öffnen die Gemüter für Erlöser- und Heldenerzählungen, in denen allein ein starker Mann über die verschworene Feindesmacht von innen, außen, oben und unten siegen kann. Wir sehen die perfekte, politische Instrumentalisierung der Trump'schen Verschwörungsideologie. Trump hat nicht verloren, er wird nie verlieren, er kann gar nicht verlieren. Er wird höchstens Opfer einer Verschwörung. (Sascha Lobo, Spiegel)
Lobo beschreibt hier wichtige psychologische Prozesse. Was wir an den populistischen Ränder beobachten können, und zwar tatsächlich einmal an beiden Seiten, ist der Versuch, eine eigene Realität zu schaffen, die gegenüber abweichenden Informationen praktisch immun ist. Ich finde das sieht man gerade an den NachDenkSeiten sehr gut, wo auf ständig irgendwelche bösartigen Einflüsse von außen dafür schuld sind, dass sich die bevorzugte policy der Autoren nicht durchsetzt; immer irgendeine Verschwörung, die die Aufklärung der Bevölkerung verhindert, die sonst natürlich geschlossen diese Position übernehmen würde. Und auf der AfD haben wir das Gleiche, wo "das Volk" ja immer eine ganz andere Meinung hat als "die da oben", und praktischerweise kennt die AfD diese geheime Meinung und kann sie direkt umsetzen. Immer der gleiche Mist bei der NachDenkQuerfront.
2) "They don't really want us to vote"
Restrictions on voting, virtually all imposed by Republicans, reflect rising partisanship, societal shifts producing a more diverse America, and the weakening of the Voting Rights Act by the Supreme Court in 2013. [...] Voting-rights advocates in Missouri are arguing in court that the state underfunded efforts to educate residents on a voter ID law. In North Carolina, the legislature's regulation of early-voting hours has shuttered polling places across the state, even as it purports to increase voting opportunities. [...] Nathaniel Persily, a Stanford University law professor and elections scholar, said what was going on reflected a shift from a belief in shared rules of democracy toward one that sees elections as struggles for power "in which you need to push up against the rules to win." He added, "We've reached a situation in which the fight over the rules and who gets to vote is seen as a legitimate part of electoral competition." (Danny Hakim/Michael Wines, New York Times)
Voting in America: "We've reached a situation in which the fight over the rules and who gets to vote is seen as a legitimate part of electoral competition." https://t.co/YRT7uONrPi
- NYT Politics (@nytpolitics) 3. November 2018
Ich zitiere diese Artikel aus der New York Times weniger wegen des Inhalts als wegen der Exemplarität von ungeheuer schädlichen journalistischen Mechanismen: dieser furchtbare Bothsiderism und die verlorene falsche Objektivität, die die Zeitung auch zwei Jahre nach 2016 weiterhin mit voller Kraft betreibt, sind ein Desaster. Da wird so getan, als ob die "Polarisierung", die natürlich beide Seiten quasi passiv und gleichermaßen betrifft (was völliger Unfug ist) natürlicherweise in voter suppression mündet. Die NYT hat panische Angst davor, die Verantwortlichen klar zu benennen. Dabei sind die Artikel selbst gar nicht so schlimm und liefern alle Fakten, aber immer mit diesen Relativierungen, mit denen sie sich gegen Subjektivitätsvorwürfe absichern. Das hat furchtbare Konsequenzen, gerade weil die NYT als objektiv gilt. Auf die Art machen sie die Arbeit ihrer Gegner, wie ein neutrales Land im Zweiten Weltkrieg.
3) Abortion may be more mobilizing to Democrat than to Republican voters now
The partisan struggle over abortion has been an enduring feature of American politics. But the parties have not prioritized it equally - the issue has consistently animated Republican voters more than Democrats. Two new surveys, however, reveal a remarkable shift in how important the issue of abortion is to Democrats and Republicans ahead of the 2018 midterm election. [...] Democrats are also increasingly likely to say abortion is an important voting issue. A recent Pew poll showed that abortion is a far more central voting concern for Democrats today than it has been at any point in the last decade - 61 percent of Democratic voters said abortion is very important to their vote this year. In 2008, only 38 percent of Democratic voters said the same. That's roughly the same percentage of Democratic voters who say terrorism, taxes, immigration, the federal budget deficit or trade policy is an important voting issue. [...] Another likely reason for the rising concern among Democrats is the years-long campaign to curb abortion access at the state level. [...] A final factor that may be contributing to the sharp rise in concern about abortion is that reproductive health care has taken a more central place in the Democratic agenda as women, particularly young women, have taken on more prominent roles in the party. [...] Whatever the immediate political fallout from the 2018 election, Democrats are likely to continue to prioritize the issue of abortion so long as its legal status appears to be threatened and access is limited. In the short term, this may mean that fewer Republicans campaign on their uncompromising opposition to abortion. Conservative Christians, a group that has worked for decades to overturn Roe v. Wade, have been conspicuously tight-lipped about abortion in recent months - an indication that they are worried about the possible political fallout of discussing their views. The 2018 election will tell us if that strategy comes too late and the abortion issue has given Democratic voters an additional reason to head to the polls. (Brian Cox, 538)
Passend zum letzten Vermischten ein weiteres Beispiel dafür, dass identity politics ein wirksames Mittel der Politik und eben nicht Gedöns-Beiwerk sind. Das gilt auch für die USA. Der öffentliche und prominente Protest führt zu einer Umschichtung der öffentlichen Meinung, und das ist ein wertneutraler Prozess. Deswegen ist es auch so wichtig, dass man den entsprechenden rechten Narrativen so entschlossen entgegentritt. Ein Seehofer'sches Zündeln am rechten Rand ist eben kein harmloses Wahlkampftaktieren, sondern leistet aktiv einer Zunahme von Fremdenfeindlichkeit Vorschub. Es zeigt auch, wie wichtig positive Narrative sind, an denen sich ein solcher Wandel entzünden kann und die gegen Furcht und Hass immunisieren.
Conservatives in distress turn to ancient texts. In the current circumstance, those of us of a Hebraic cast reach for the prophet Isaiah in his darker moods, or the even fiercer denunciations of Amos. Devout Christians despairing of a society in full malodorous rot look to The Rule of St. Benedict. Classicists might pick up a volume of Seneca, sighing wistfully as they contemplate the philosopher's fate at the hands of his mad pupil, Emperor Nero, who, unlike President Donald Trump, at least played a musical instrument competently. A more twisted few will reach for Machiavelli. For those undergoing real tests of the soul, however, the place to go is J. R. R. Tolkien's modern epic, The Lord of the Rings. [...] erstwhile NeverTrumpers who wryly describe themselves as "OccasionalTrumpers," or who attempt to cleanse themselves of the stain of having signed letters denouncing candidate Trump by praising President Trump's achievements and his crudely framed, rough-hewn wisdom, deploring his language but applauding at least some of his deeds. It is the temptation to accommodate oneself to the nature of the times, as Machiavelli would have put it, and to ally-cautiously but definitely-with the Power that is rather than the principles that were. And that is where Tolkien comes in. His masterwork-the six books in three volumes, not the movies with their unfortunate elisions, occasional campiness and spectacular computer-generated images-addresses many themes relevant to our age, not least of which is that temptation. [...] And there you have it. Ally with the rising power (Sauron is making his ashen, desolate homeland, Mordor, great again) and use your wisdom to contain and guide it. Your old friends and allies are fools or weaklings. Go along with the inevitable, and you may shape the new world; oppose it, and you will simply fail and perish. [...] The stakes are not nearly as high for conservative thinkers as they were for the inhabitants of Middle Earth, but the basic idea is worth pondering. Some of them wish to walk back their condemnation of Trump, the animosities that he magnifies and upon which he feeds, the prejudices upon which he plays and the norms he delightedly subverts. They do so not because their original judgments have been proved unjust-far from it-but because, weary of unyielding opposition, they would like to shape things, or at least to hold communion with those who are in the room where the deals are done. But as Gandalf and Galadriel could teach them, the height of wisdom is to fear their own drive for power, to fight the fight in a darkening world even if it looks likely to end in failure, and, above all, to choose to remain their better selves. (Eliot A. Cohen, The Atlantic)
Ich finde das nicht nur aus Nerdstream-Gesichtspunkten eine interessante Metapher. Tatsächlich finden sich diese Quisling-Konservativen in wahren Massen, und nur eine verschwindend geringe Minderheit hat die Größte besessen, ihre Karrieren und ihre wirtschaftlichen Interessen für ihre Überzeugungen zu opfern. Das ist auch verständlich. Aber den Betroffenen muss klar sein, dass sie als "OccasionalTrumpers", ganz egal was sie sich selbst einbilden, unverbrüchlich mit dem Ruch der Trump-Ära behaftet sein werden. Man konnte bei der Austreibung der Neocons während der Primaries 2015 - ironischerweise durch Trump selbst - gut beobachten, wie schnell das gehen kann. Letzten Endes machen diese Saruman-Trumpers die Wette, dass die GOP auf lange Sicht hinaus nun zu Trumps Partei geworden ist, auch wenn der Mann selbst geschwunden ist.
Die Fragen sind nur: Verfügen die Bewerber über ein Programm? Und ist es jenes "Konservative Manifest", das Mitschs Werteunion im Frühjahr unters Volk brachte? Wenn es so sein sollte, dann hätten die Bewerber außer dem naturtrüben Evergreen "Mehr Vaterland, mehr Landesverteidigung, mehr Kernfamilie" nicht viel zu bieten. Tatsächlich aber bringen konservative Köpfe weitaus radikalere Ideen in Umlauf, und zwar solche, die die Union nicht bloß mit Werte-Schaum aufpolstern, sondern die Deutschland selbst substanziell verändern sollen. [...] Interessant daran ist: Wie Dobrindt, so attackiert auch Jens Spahn nicht die Person Angela Merkel, sondern das liberale mentalitätsgeschichtliche Erbe, das sie für ihn verkörpert. Diese Kritik erinnert an eine Geschichtsauffassung, die in der Vor-Merkel-Ära nicht nur unter bekennenden Rechten, sondern auch unter Unionschristen die Runde machte, zum Beispiel im rechtskonservativen Weikersheimer Kreis. Im Kern läuft sie auf die Behauptung hinaus, die Bundesrepublik sei leider nicht das echte, sondern nur das unechte Deutschland - eine Erfindung der Siegermächte, ein der Nation wesensfremdes, auf den Namen "Liberalismus" getauftes Konstrukt. [...] Und was dann? Dringend erwünscht erscheint ein Politiker mit Lizenz zum Durchregieren; für Horst Seehofer war es anfangs Donald Trump, er rühmte die "Konsequenz und Geschwindigkeit", mit der dieser seine Versprechungen wahr machte ("in Deutschland würden wir da erst mal einen Arbeitskreis einsetzen, dann eine Prüfgruppe und dann noch eine Umsetzungsgruppe"). Unterdessen hat Seehofer seine Meinung geändert, dafür bleibt, eigentlich unfassbar, Viktor Orbán ein gern gesehener Gast der CSU. Der ungarische Ministerpräsident saniert gerade seine Gesellschaft, er verbindet Marktwirtschaft mit autoritärer Leitkultur und treibt eine Demokratie ohne Liberalismus voran, also eine Demokratie, die bald nur noch so heißt, aber keine mehr ist. Noch freundlicher, beinahe liebevoll, ist das Verhältnis zum österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz. Als die Union im Dauerstreit versank, schlug sich Kurz auf die Seite der CSU und bewies für Jens Spahn damit offenbar genau das schneidige Talent, das der Bundeskanzlerin in der Stunde der Entscheidung fehlt. Es ist ja nicht nur der Spiegel, dem Spahns "öffentlich zelebrierte Nähe zu Kurz" auffällt. [...] Wie die Landtagswahlen in Hessen gezeigt haben, gibt es für ein Krisenbewältigungsprogramm nach österreichisch-ungarischem Muster in Deutschland keine Mehrheit, das ist beruhigend. (Thomas Assheuer, Die Zeit)
Das ist ein langer Artikel, es lohnt sich daher mehr als nur den obigen Ausschnitt zu lesen. Ich halte es als eine Langzeitperspektive auf das, was innerhalb des konservativen Spektrums vor sich geht, für wertvoll. Aktuell irrlichtern diese Ideen am Rande des Spektrums der CDU/CSU herum, bei den berühmten Hinterbänklern. Da gab es diese Ideen natürlich immer schon. Wie der Artikel ja auch zeigt gibt es für diese Ideen auch keine Mehrheit; wenn sie Erfolg haben wollen, müssen sie sich an andere, populärere Forderungen anheften - etwa eine restriktivere Flüchtlingspolitik. Es bleibt deswegen auch so wichtig, dass die Union ihre bisher überwiegend erfolgreiche Abgrenzung nach rechts fortsetzt, auch wenn das bedeutet, dass es entgegen früherer Zeiten eine Partei rechts von ihr im Parlament gibt. Ich möchte deswegen auch betonen, dass diese Bewegung und diese Ideen aktuell zwar marginalisiert sind, aber dass die Gefahr eben besteht, dass jemand (Spahn etwa) das Bündnis mit diesen Leuten sucht, um an die Macht zu kommen, und sie dadurch legitimiert. So was kann für Außenstehende ruckartig vor sich gehen (auch wenn es sich innerparteilich schon länger abgezeichnet hat, siehe GOP). Manche werden sich daher umgucken, wenn die je gewinnen, gerade auch Kommentatoren hier im Blog, die das häufig zu sehr framen entweder als eine reine policy-Frage (etwa die konkrete Ausgestaltung des Asylrechts) oder als reine Wahlkampftaktik.
Kann die SPD sich also trotz allem auch in der Regierung erneuern? Das zu glauben fällt schwerer denn je. Und das hat nichts mit dem sehr sozialdemokratischen Koalitionsvertrag zu tun, sondern maßgeblich mit einem schlimmen Tripple: Grenzzurückweisungen, Maaßen und Diesel. [...] Der „Dieselkompromiss" hat den Eindruck verschärft, dass die Regierung nicht auf der Seite der Verbraucher, sondern der Bosse steht. Verkannt wird dabei, dass beiden - Regierung und Bossen - bei dem Blick in die Zukunft der deutschen Automobil- und Zulieferindustrie der nackte Angstschweiß auf der Stirn steht. Wir stehen hier vor einem möglichen Fiasko, wogegen sich die große Stahlkrise der 80er und 90er Jahre wie ein leises Rumpeln ausmachen könnte. [...] Gleiches gilt natürlich für die Braunkohle, die kein Mensch mehr braucht, außer denen, die unmittelbar davon ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dass der Staat es nicht schafft, Hand in Hand mit der Industrie in Boomzeiten den Betroffenen eine vernünftige Alternative anzubieten, ist ein Armutszeugnis. [...] Die dritte bedeutende Baustelle ist die Frage einer solidarischen EU, die angesichts neuer ökonomischer wie militaristischer Bedrohungen aus dem Osten wie dem Westen die einzige Antwort sein kann. Auch hier tritt allen Beteiligten der Angstschweiß auf die Stirn. Mehr EU ohne mehr Solidarität geht nämlich nicht. Und mehr Solidarität bedeutet natürlich auch engere Kooperation und Verantwortung. Die Bundesregierung hat sich bisher entschlossen, die Initiativen von Macron weitgehend zu ignorieren. Man kann diese in Teilen gut oder schlecht finden, aber die Frage bleibt dann, welche Initiativen denn von dieser Großen Koalition ausgehen, damit sie den Namen „Groß" verdient. [...] Deutschland steht nicht vor einem Rechtsruck. Auch das haben die letzten Wahlen gezeigt und die Umfragen ebenso. Die große friedliche und demokratische deutsche Mitte - rund 75-85%, sortiert sich zwischen CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP und in manchen Bundesländern, wie etwa Thüringen, zähle ich die Linke mit zur demokratischen Mitte. Das Pendel schlägt zurzeit eindeutig in Richtung des modernen Deutschlands. Dafür muss die Politik die Zukunft der Arbeit mit der Zukunft der Welt, in der wir leben und der Art, wie wir in dieser Welt zusammenleben wollen, verbinden. Welche progressive Partei sich hierfür am besten aufstellt, wird die Zukunft gewinnen. Eine tolle Aufgabe. Man sollte irgendwas mit Politik machen. (Frank Stauss)
Die These, dass gerade die Diesel-Affäre der SPD besonders schade, ist sicherlich originell, aber ich finde sie durchaus bedenkenswert. Schließlich betrifft das eine frühere Kernwählerschaft der Partei. Die Verbindung zwischen dieser Krise auf der einen Seite und dem Gegensatz Vorstände und Arbeiterschaft, den Stauss hier aufmacht, ist eigentlich auch offensichtlich; umso verwirrender, dass die SPD einmal mehr nicht in der Lage ist, diesen auszunutzen. Es scheint, als hätte die Partei panische Angst davor, einen klassenkämpferisch angehauchten Wahlkampf zu machen. Ich habe über das Disruptionspotenzial des Niedergangs der Autoindustrie bereits in meinem Artikel Finis Baden-Wuerttembergiae geschrieben. Die deutsche Politik macht hier viel zu wenig und versucht, einer todgeweihten Industrie, die sich weigert sich zu reformieren, durch massive staatliche Intervention das Ableben hinauszuzögern. Die Milliarden, die in die Subventionierung der Autoindustrie gehen, werden uns bei der Bewältigung des Strukturwandels nachher bitter fehlen. Das Ruhrgebiet und das Saarland können ein bitteres Lied davon singen. Vielleicht sollten die Ministerpräsidenten Niedersachsens, Bayerns und Baden-Württembergs mal mit ihren Kollegen sprechen.
7) Wer hat Angst vorm Sprachverfall?
Interessant finde ich es in diesem Zusammenhang allerdings immer wieder, wenn Menschen sich Sorgen machen, dass unsere Sprache (oder ihre Sprache) bedroht ist, zu degenerieren. Menschen reden nun schon seit mehr also 50 000 Jahren, und bisher ist keine Sprache, die von einer Vielzahl von Menschen gesprochen wird, degeneriert. Sprachen können vergessen werden, ja, sie können aussterben, und ihr Tod ist traurig, da er sich im Vergessen zeigt, wenn Sprecher ihre Muttersprache nicht mehr verwenden können oder wollen, und sie ihren Kinder nicht mehr beibringen. Aber die großen Sprachen wie Deutsch und Englisch, Russisch und Chinesisch, Spanisch und Französisch, sie sind alle nicht davon bedroht, von ihren Sprechern aufgegeben zu werden, und solange das nicht passiert, kann eine Sprache auch nicht degenerieren. Sprachen verändern sich so lange sie existieren, immer, ohne Unterlass, das wissen wir schon sehr lange, aber Sprachen degenerieren nicht. Sie können nur anfangen, von dem abzuweichen, was wir persönlich als ästhetisch ansehen. Aber gerade wenn sich Sprachen in bestimmten Bereichen ändern, die einigen Menschen nicht passen, dann liegt das ja auch daran, dass es viele Menschen gibt, die mit den neuen Änderungen keine Probleme haben. Und wenn eine Mehrheit der Sprecherinnen und Sprecher einer Sprachgemeinschaft eine neue Sprachpraxis akzeptiert und praktiziert, dann ist das die neue Norm, und es ist vermessen, sich als einzelner Sprecher hinzustellen und sich darüber aufzuregen, wie dumm doch die Mehrheit ist, die unsere Sprache langsam aktiv in den Abgrund treibt. [...] Sprachen ändern sich, so lange sie existieren, das hat schon August Schleicher gesagt (Schleicher 1863). Solange es jedoch genug Menschen gibt, die eine Sprache aktiv sprechen und sich ihrer bedienen, um zu kommunizieren, solange ist eine Sprache auch nicht gefährdet zu degenerieren. Es ist schade, dass Vorstellung, dass Sprachen wie das Deutsche bedroht sein können, immer noch in den Köpfen einiger Menschen herumspukt, die sich als Sprachpfleger berufen fühlen, dem schrecklichen Verfall entgegenzutreten. Man kann sich über Floskeln aufregen, die Menschen benutzen, man kann sich auch darüber aufregen, wenn Menschen mit ihrer Sprachwahl unachtsam sind und unnötig andere Menschen verletzen, aber Angst vor einer Degeneration unserer Sprachen zu schüren, nur weil die Mehrheit von unserer gefühlten, idiosynkratischen und lediglich emotional begründeten Norm abweicht, das muss man nicht tun. Es gibt weitaus wichtigere Probleme, derer wir uns annehmen sollten, als die Wörter, die unsere Mitmenschen benutzen, um bestimmte Dinge auszudrücken. (Johann-Mattis List, Von Wörtern und Bäumen)
Das Entgegentreten gegen die Idee des Sprachverfalls ist auch so ein Hobby von mir. Ich weiß nicht wie das bei anderen ist, aber ein ganz häufiges Ding in meinem Umfeld ist die wahnsinnig innovative Feststellung, dass im Deutschen die Formulierung "das macht Sinn" ja eigentlich "nicht richtig" sei, weil es "richtig" schließlich "Sinn ergeben" heißen müsse. Ich frage dann immer pointiert zurück ob mein Gegenüber denn verstehe, was ich meine, wenn ich "Sinn machen" sage. Das wird natürlich bejaht. Wo also liegt das Problem? Das gilt für viele Sachen. "Richtige" Sprache ergibt sich aus ihrer Benutzung. Zahllose Worte fallen aus der alltäglichen Nutzung heraus, und das gleiche gilt für Formulierungen. Ich merke das ja auch in der Schule, wo ich beim Lesen von Literatur oder Quellen im Geschichtsunterricht zahllose Begriffe mit Fußnote angeben muss, um die Texte überhaupt verständlich zu halten. Davon abgesehen würde dem Deutschen ein Trend zur Vereinfachung ähnlich dem PSE im englischen Sprachraum (Plain Simple English) auch gut tun. Ich erwische mich ja selbst immer wieder beim Bauen von Schachtelsätzen und unnötigen Verwenden von Fremdworten. Das spricht weniger positiv über meinen Bildungsstand als negativ über meine Formulierungsfähigkeit. So, Selbstkritik beendet.
8) Alice Weidel bezahlte Wahlkämpfer mit Spende
Demnach schickte ein Kölner Medienanwalt, der von Weidel beauftragt worden war, gegen Journalisten vorzugehen, seine Rechnungen an die Bundesgeschäftsstelle der AfD. Von dort wurden sie mit Weidels Einverständnis an den Kreisverband Bodensee weitergeleitet, wo die Kreisgeschäftsführerin mit der Bearbeitung von Weidels Rechnungen betraut war. Für die Begleichung wurde ein Unterkonto verwendet, auf dem die rund 130.000 Euro aus der Schweiz lagerten. Das Unterkonto wurde geschaffen, um die Wahlkampfausgaben von den übrigen Ausgaben des Kreisverbandes zu trennen. Nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung" forderte der Anwalt eine fünfstellige Summe. Ebenso wurde ein für Weidels Wahlkampf in sozialen Netzwerken zuständiger Mitarbeiter instruiert, seine Rechnung direkt an den Kreisverband zu richten. In Parteikreisen ist von Beträgen zwischen drei- bis zehntausend Euro im Monat die Rede, davon soll der Mitarbeiter unter anderem sogenannte Facebook-Likes gekauft und Inhalte erstellt haben. Weidels Sprecher bestätigte die Rechnungsstellung an den Kreisverband. Dass zur Bezahlung auch das Spendengeld verwendet wurde, erklärte er damit, dass „die Kreisschatzmeisterin davon ausgegangen ist, dass diese Spende völlig ordnungsgemäß ist". Auch Weidel habe das gedacht. (FAZ)
Inzwischen hat sich die AfD-Spendenaffäre ja noch deutlich ausgeweitet; ich will daher auf zwei ganz andere Aspekte eingehen. Das erste, was zwar ständig berichtet, aber irgendwie nicht thematisiert wird, ist dass die AfD mit dem Geld Likes gekauft hat. Wie bei Trump, Farage, Le Pen und Konsorten auch ist die angebliche Stärke im Netz teilweise eine Mirage, unterstützt von Armeen von Bots und ähnlichen Hilfestellungen, mit denen eine Minderheitenbewegung sich größer zu machen versucht als sie ist - ein bisschen wie Fidel Castro, der im Interview einen Boten hereinplatzen ließ, der atemlos von einer "zweiten Kolonne" berichtete, die gar nicht existierte. Im Times-Artikel stand es dann die unter 100 Köpfen zählende Truppe nachher dann als inselumspannende Armee. Der zweite Faktor ist die übliche Ausrede, dass man nur Fehler gemacht habe. Die Crux ist, dass das sogar möglich ist. Die AfD als relativ neue Partei ist schnell groß geworden und hat keine gut eingespielten und mit kompetentem Personal ausgestatteten Institutionen. Da kann so Quatsch schon vorkommen. Aber: Die Beträge, die hier bei kleinsten Ortsverbänden hereingekommen sind, stehen in keinem Verhältnis zu deren Spendenhistorie. Wenn die gedacht hätten, dass das alles völlig sauber und stressfrei ist, hätten sie doch damit angegeben.
Liessmanns Diagnose, wonach die Weltoffenheit symbolisierende Bevorzugung des Englischen der Selbsterhöhung einer sich kommunikativ abschließenden Elite dient, betrifft nicht nur das Verhältnis der Wissenschaft zur Öffentlichkeit, sondern auch das Selbstverhältnis des akademischen Personals. Wer nicht seine Bildungssozialisation hindurch bilingual aufgewachsen ist, vermag in der Regel Gedanken, Interpretationen und Urteile in seiner Erstsprache prägnanter und selbstsicherer zu formulieren denn in einer Zweitsprache, so routiniert er diese auch beherrscht. Er muss also, um nicht gegen die kommunikativen Verkehrsregeln zu verstoßen, gleichsam die Erstsprache auf die Verkehrssprache herunterbringen und auf all jene Nuancen verzichten, die sich nur in der Erst-, nicht in der Verkehrssprache formulieren lassen. Dadurch aber tritt in den Geisteswissenschaften - mit Adorno und Gadamer gesprochen -„das Entscheidende" tendenziell in Widerspruch zu dem, was „praktisch" ist. Fungiert statt der Erstsprache die allen Gesprächspartnern vertraute Zweitsprache als einzige Verkehrssprache, avanciert jenes „Praktische", die Sphäre instrumenteller Mitteilung, zum wichtigsten Maßstab eines gelingenden Gesprächs. [...] Würde demgegenüber das trennende, unterscheidende Moment von Sprache stärker ins Bewusstsein gehoben, könnte das nicht nur der Genauigkeit des Ausdrucks, sondern auch dem kommunikativen Potential von Sprache nützen. Adornos Satz, „das Entscheidende, was unsereiner zu sagen hat", könne „von uns nur auf Deutsch gesagt werden", lässt sich nämlich auch als Einladung lesen: Andere, aber eben nicht er selbst, könnten das Gleiche anders, aber ebenso angemessen in einer anderen Sprache formulieren. Damit ist der Konnex von historischem Gedächtnis, lebensgeschichtlicher Erfahrung und sprachlicher Form benannt, den jede Erkenntnis voraussetzt und der durch die Fetischisierung des Englischen als allgemeine Verkehrssprache verdrängt wird. (Magnus Klaue, FAZ)
Ich empfinde diesen Text als Satire, muss ich ehrlich sagen. Er ist auch so ein Gegenstück zu meinem Fundstück 7. Da beschwert sich jemand in höchstem Akademiker-Duktus mit Verweisen auf Adorno darüber, dass ausgerechnet die Verwendung des Englischen den akademischen Diskurs unverständlich mache. Are you fucking kidding me? Ich erzähle diese Geschichte gerne, deswegen sorry wenn ihr das von mir schon gehört habt, aber als ich 2006 angefangen habe, Politikwissenschaften zu studieren, waren die allerersten zwei Einführungs-Proseminare ein Albtraum: die Grundlagentexte im Reader waren völlig unverständlich, und die Behandlung im Seminar half nicht, das zu ändern. Als die nächsten Texte Englisch waren hatte ich völlig Panik: ich hatte ja bisher schon nichts verstanden, wie dann jetzt auch noch auf Englisch? Obwohl meine Sprachkenntnisse damals mehr so mittel waren, verstand ich sie problemlos, PSE sei dank. Die deutschen Texte blieben unverständlich. Noch schlimmer war die Einführungsvorlesung Lyrik im Deutsch-Studium; ein Saal von hunderten Studenten, teils im Dritten Semester, verstand NICHTS. Wirklich nichts. Der Dozent sprach technisch gesehen Deutsch, aber ich kannte jedes dritte Wort nicht. Es war ein Albtraum. Magnus Klaue sollte daher mal aus dem Elfenbeinturm herauskommen. Und vielleicht ein paar englische Texte lesen.
10) The yawning divide that explains American politics
A gender gap has been a durable feature of American politics, most easily seen in presidential election results. Since 1980, American women have consistently backed Democratic candidates for president at higher rates than have men, while men have favored Republicans-a gender split not seen in the earliest national exit polls, conducted in the 1970s. [...] Now, educational attainment has supercharged that split among white voters, who account for more than 70% of the electorate. Those with bachelor's degrees have shifted toward the Democratic Party, while the Republican Party has gained among voters who don't have four-year college degrees. The educational divide isn't strong among nonwhite voters, who lean heavily toward the Democrats. In fact, minority voters with and without bachelor's degrees have become more politically aligned in recent years. [...] Differences in cultural values and views of government widened during President Obama's time in office, when he promised to build an activist government that would increase spending on education and social programs. Among white voter groups, women with college degrees were by far the most supportive of Mr. Obama's governing philosophy, while men without degrees have grown more skeptical of it, especially in the past three years. [...] The differences between the two groups are stark on many of the issues dominating the midterm campaign: immigration, gun control and health care. In each case, white men without college degrees support Mr. Trump's policy stance, while white women with degrees are opposed. (Brian McGill, Wall Street Journal)
Dieser Artikel ist, man entschuldige die Wortwahl, bigotte Scheiße. Während die Bestandsaufnahme selbst komplett richtig ist (wer mehr von den Statistiken sehen will, klicke den Artikel), ist die Analyse völlig unbrauchbar. Woher kommt das? Es ist die ideologische Scheuklappe des Autors, der in der Hauspostille der GOP schreibt. Man merkt das im zweiten Teil des obigen Zitats, wo er von "Unterschieden in kulturellen Werten und Ansichten von Regierung" spricht, die zu einer Ablehnung des "aktivistischen Politikstils" Obamas geführt habe. Dieser Unfug wurde 2016 ja auch zur Genüge verbreitet, unter dem Schlagwort der " economic anxiety", die ja angeblich diese Wahlentscheidungen lenke. Aber es sind identity politics, nichts anderes. Die Wähler haben kein Problem mit aktivistischem Regieren; sie wollen nur, dass die aktivistische Regierung IHRE bevorzugte Politik durchsetzt statt die der anderen. Das ist, wie ich in einem früheren Vermischten gezeigt habe,. völlig normal, aber es macht die Wall-Street-Journal-"Analyse" praktisch wertlos.
In short, every major political institution has been increasingly discredited as Brazil has spiraled deeper and deeper into a dark void. And from the abyss emerged a former army captain and six-term congressman from Rio de Janeiro, Jair Bolsonaro, with the slogan "Brazil above everything, God above everyone," and promises to fix everything with hard-line tactics. Seven years ago, Bolsonaro was a punchline for the political humor program CQC, where he'd make outrageous statements. A former presenter, Monica Iozzi, said they interviewed him multiple times "so people could see the very low level of the representatives we were electing." Now, it's Bolsonaro who is laughing, and Iozzi says she regrets giving him airtime. Riding the wave of public discontent, Bolsonaro campaigned against the Workers' Party, corruption, politicians, crime, "cultural Marxism," communists, leftists, secularism, and "privileges" for historically marginalized groups. Instead, he favored "traditional family values," "patriotism," nationalism, the military, a Christian nation, guns, increased police violence, and neoliberal economics that he promises will revitalize the economy. Despite his actual political platform being short on specific proposals, the energy around his candidacy was enough to win the presidency and turn his previously insignificant Social Liberal Party into the second-largest bloc in Congress. But what has frightened his opponents, many international observers, and even some fervent Workers' Party critics, are Bolsonaro's repeated declarations in favor of Brazil's military dictatorship, torture, extrajudicial police killings, and violence against LGBTQ people, Afro-Brazilians, women, indigenous people, minorities, and political opponents, as well as his opposition to democratic norms and values. (Andrew Fishman, The Intercept)
Es lohnt sich, den obigen Artikel anzuklicken um die vielen Zitate Bolsonaros im Artikel direkt zu lesen. Ansonsten ist denke ich klar, warum ich diesen Ausschnitt zitiere. Genauso wie in Brasilien war es in den USA ein massiver Fehler, einen rechtsextremen Clown wegen seines Unterhaltungswerts zu normalisieren und nicht ernst zu nehmen, bis der Clown dann plötzlich die Kontrolle über einen ausgewachsenen Staat in die Hände bekommt. Da hört der Spaß dann nämlich ganz schnell auf.