Raupen wollen nicht versagen und Schmetterlinge nicht fallen

In a world full of butterflies it takes balls to be a caterpillar … some thoughts of falling …
„Immer diese Titel von Robyn Orlin! Wer von Ihnen weiß denn, wie der heutige Abend überhaupt heißt?“ Es ist der Tänzer und Choreograf Eric Languet, der dem Publikum während seiner Performance die Frage nach dem Motto des Tanzabends, der von Robyn Orlin choreografiert wurde, stellt. Und tatsächlich braucht es einige Minuten, bis der lange Titel mühsam von mehreren Personen zusammenstoppelt werden kann. Trotz ihrer vermeintlich schweren Reproduzierbarkeit und gleichzeitig auch medialen Vermarktbarkeit, die ja bei heutigen Kunstproduktionen bis hin zur Google-Optimierung schon im Entstehen mit bedacht wird, sind die Titel von Robyn Orlin allesamt elendslang. Aber auch das kann ein Markenzeichen sein. Bei der jüngsten Produktion, die voriges Jahr entstanden ist, agieren sowohl Eric Languet als auch Elisabeth Bakambamba Tambwe in Soloparts, die einander nicht bedingen, aber zumindest mit einer großen Klammer vereint sind. Die Rede ist von sogenannten Wurf- oder 2 Sekunden-Zelten. Eine junge Zelt-Entwicklung, bei der das Campingzelt ohne Gestänge auskommt und in 2 Sekunden oder eben auch nur durch Auseinanderwerfen des zusammengefalteten Zelts aufgebaut wird.
Elisabeth Tambwe - Robyn Orlin Elisabeth Tambwe erweist sich im ersten Teil des Abends als wahre Zelt-Meisterin. (Foto: Thomas Lachambre) Eric Languet Ericl Languet - Robyn Orlin

Elisabeth Tambwe erweist sich im ersten Teil des Abends als wahre Zelt-Meisterin, über lange Strecken „ist“ sie sogar selbst ein Zelt. Dabei kombiniert sie ihre Zelt-Performance mit einer ganzen Reihe von überaus kreativen und witzigen Einfällen, die weit mehr als nur tänzerische Elemente beinhalten. Sie beginnt gleich am Anfang das Publikum zu maßregeln, dafür, dass es sich auf der Bühne aufhält, wo ja eigentlich sie agieren soll. Danach moniert sie, dass sich das Publikum viel zu bereitwillig auf seine Plätze gesetzt hätte – ohne jegliche Widerrede! Was soll das denn sein, ein bisschen „resistance“ wäre doch angebracht gewesen. Währenddessen hat sie eines dieser Zelte so um ihren Körper geschlungen, dass nur ihr Kopf zu sehen ist. Der Rügen genug, zieht sie sich wieder in ihr Zelt zurück und mutiert zum Zeltwesen, das mit großem Genuss daran geht, andere Zelte zu verschlingen. Man fragt sich, wo diese Frau um Himmels willen denn in dieser kleinen Stoffbehausung Platz findet und ist völlig überrascht, als sie sich plötzlich mit hohen Pumps aus selbiger herausschält. Das Zelt, Symbol für Hightech-ausgerüstete Wanderer, aber zugleich auch für den letzten Unterschlupf von Obdachlosen, mutiert nun zu unterschiedlichen Edelroben schwarzer Sängerinnenikonen. Aretha Franklin oder Whitney Houston, um nur zwei von vielen zu nennen, werden von Tambwe aufgezählt und gleichzeitig bemerkt sie, dass sie alle mit schweren Mängeln behaftet, durchs Leben gingen. Ob drogen- oder medikamentenabhängig oder einfach nur psychisch deformiert – diese großen Namen bürgen nicht automatisch für ein gelungenes Leben. Gekonnt wickelt sie dabei ein ums andere Mal die grellbunten Zelte um ihre Hüften, ihre Brüste oder ihren ganzen Leib, sodass man meint, diese seien für nichts anderes als für eine ständige Umkostümierung erfunden worden. Doch es sind nicht Zelte allein, die Elisabeth Tambwe kleiden. Hervorzuheben ist Birgit Neppl, die für das Kostüm der Tänzerin verantwortlich zeichnet, wobei die Einzahl des Wortes Kostüm ein völliger Trugschluss ist – und doch stimmt. Das aus vielerlei unterschiedlichen Stoffbahnen genähte wandelbare Kleid überrascht beinahe im Fünfminutentakt durch seine multiplen Verwandlungsmöglichkeiten. Zwischen langen Abendroben und kurzen Alltagskleidern oszilliert das Aussehen und verwandelt jedes Mal ihre Trägerin mit. Ob als rechthaberische Non-Konformistin, als schnarchende Chansonsängerin, der beim Play-back das Mikrofon schlafenderweise aus der Hand fällt, ob als gefräßige Raupe, als die sie sich selbst bezeichnet und gegen all die Schmetterlinge auf der Welt abgrenzt, die sie nie sein wird, oder als männerbetörende Femme fatale, die sich einen Herren aus dem Publikum holt, um mit ihm auf der Bühne zu demonstrieren, dass es einer gehörigen Portion Anstrengung bedarf, um sie aus der Waagerechten hoch zu hieven – in all ihren so gänzlich unterschiedlichen Rollen besticht sie nicht nur durch ihre Wendigkeit, ihre tänzerische Ausdrucksweise und ihre Kreativität. Vor allem ist es ihre starke Persönlichkeit, die durch das Geschehen durchleuchtet, ja den Saal in gewissen Passagen förmlich erleuchtet und die Tanzperformance so einzigartig macht. Tanz – obwohl permanent präsent – generiert bei ihr sogar zur Nebensache, der Diskurs mit dem Publikum und der Spaß steht dabei an vorderster Stelle. Eine Tänzerin, die sich als leidenschaftliche Esserin outet und die zu ihrer leiblichen Fülle steht, die intelligent und witzig zugleich ist und einen speziellen Draht zum Publikum aufbauen kann – eine solche darf man an diesem Abend im Tanzquartier hautnah erleben.

 

Eric Languet ist eine adäquate Wahl, wenn es darum geht, Elisabeth Bakambamba Tambwe jemanden für einen Abend an die Seite zu stellen. Oder genauer gesagt, sein Solo nach dem ihren anzuhängen. Als im klassischen Ballett Ausgebildeter, der es bis an die Operá Paris geschafft, aber sich schon seit vielen Jahren dem zeitgenössischen Tanz verschrieben hat, agiert er tänzerisch als Vollprofi. Vom Show-Tänzer mit einer homoerotischen Ausstrahlung und einem glänzenden, rot-goldenem Schmetterling auf seinen Pobacken mutiert er bis hin zum Solisten, der die Sprünge des klassischen Ballets im Tutu noch genauso aus seinem tänzerischen Repertoire abrufen kann wie den Spitzentanz selbst. Nichts davon, keine einzige tänzerische Idee kommt jedoch mit ernstem Ausdruck über den Bühnenrand. Vielmehr karikiert er sich beständig selbst, erzählt ganz nebenbei seinen künstlerischen Werdegang, der in seiner Heimat Réunion begann und ihn über Paris nach Neuseeland führte und zeigt, wie viel Krafttraining und Akrobatik im zeitgenössischen Tanz steckt. Als passionierter Surfer mutiert bei ihm ein blaues Zelt (angesprochene Klammer der beiden Performances) zum Surfbrett oder aber auch zu ihn mitreißenden Wellen, durch die er durchtaucht, um doch immer wieder die Oberhand über das unberechenbare Element Wasser zu behalten. Nicht nur in dieser Situation, auch in einer kräfte- und zugleich atemberaubenden Performance, die viel mit Bodenakrobatik gemein hat, macht Languet klar, dass ihn klassischer Tanz längst nicht mehr interessiert. Besonders durch die Gruppe DV8 beeinflusst, arbeitet er seit vielen Jahren selbst auch als Choreograf mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Genauso wie zuvor Elisabeth Tambwe schafft es Eric Languet, sein Publikum nicht nur ins Geschehen miteinzubeziehen, sondern dass dieses sich auch mit seinem Tun völlig identifiziert. So zum Beispiel mit seinen „trust-falls“ – bei denen er quer durch die Publikumsreihen wandert, um sich unvermittelt nach vor und zurück – in die Arme von völlig Überraschten fallen, oder sich auch beim Entkleiden helfen zu lassen.

 

Was bei den beiden Darbietungen sich nicht auf Anhieb erschloss, nämlich der Bezug zum zweiten Teil des Titels „some thaughts of falling“ erklärte im Künstlerinnengespräch nach dem zweiten Aufführungsabend die Choreografin Robyn Orlin selbst. Die in Südafrika aufgewachsene Künstlerin, die ursprünglich bildende Kunst studierte, war eingeladen worden, an der Pariser Oper Händels Allegro einzustudieren und stieß dabei auf vehementen Widerstand der Tänzerinnen und Tänzer. Diese weigerten sich, vor der Projektion jenes Fotos zu tanzen, das einen „falling man“ aus einem der Twin Towers zeigte, die 9/11 Ziel von Flugzeuganschlägen geworden waren. „Es war das erste Mal, dass die TänzerInnen sich an der Pariser Oper gegen eine Choreografin auflehnten“ erklärte Orlin beinahe mit Stolz in der Stimme. Und dieser Stolz, der im ersten Moment vielleicht noch befremdlich wirkte, erklärte sich im weiteren Diskussionsverlauf, an dem auch Elisabeth und Eric teilnahmen. Robyn Orlin hat diese Reaktionen so stark bewegt, dass sie das Thema des „Falling Man“ in einer eigenen Produktion aufgreifen wollte. Aber sowohl Tambwe als auch Languet kooperierten mit ihr auf ihre ganz persönliche Weise und mit ihrem ganz eigenen Zugang zum Thema des Fallens. Sie interpretierten das Fallen nicht als jenen Moment, in dem ein Mensch aus einer gewissen Höhe auf die Erde fällt, sondern in metaphorischer Art und Weise. Beide stellten sich die Frage nach dem Versagen im Leben – in ihrem eigenen, aber auch in dem von anderen Menschen und gelangten so zu ihren persönlichen Performances. Dass Robyn Orlin ihren Tänzerinnen und Tänzern diese Freiheit zugesteht, macht sie für viele Tanzende so interessant. Es sind nicht ihre Direktiven, die jenen Ausschlag geben, um ein gelungenes Tanzstück zu kreieren, sondern vielmehr ihre ständige Hinterfragung eines Status quo, den sie nicht stehen lassen möchte, sondern vielmehr in sein Gegenteil verkehren will. Immer, wenn Languet oder Tambwe sich in einer Komfortzone bewegten, war sie es, welche die beiden stoppte und das Gegenteil von dem verlangte, was sie gerade zeigten. „Ich möchte immer an der Grenze entlang gehen, dort, wo so sowohl das eine als auch das andere möglich wird“, erklärte sie dem Publikum ausführlicher. Aus diesem Grund sind Orlyns Produktionen auch so unterschiedlich und von keiner Handschrift besetzt, welche die Stücke sofort als ihre erkennbar machen. Das Eingehen auf die Tänzer und Tänzerinnen selbst kann als eines ihrer Charakteristika bezeichnet werden, das einher damit geht, möglichst unterschiedliche Kreative an einem Projekt zu beteiligen. Als schönes Beispiel kann hier auch die Produktion „Call it… kissed by the sun… better still the revenge of geography…“ aufgezeigt werden, die vor wenigen Jahren durch die Welt tourte. Damals waren es Erlebnisse aus Pariser Vororten, bei denen ein Jugendlicher ums Leben kam, die vom Solisten Ibrahim Sissoko eindringlich in Szene gesetzt worden waren.

 

„In einer Welt voller Schmetterlinge, in der es ordentlich Mut braucht, um eine Raupe zu sein …“ wie der Titel des Stückes auf Deutsch übersetzt wurde, ist einer jener raren Tanzabende, die nicht nur das Auge und den Kopf, sondern auch das Herz ansprechen. Weil es Menschen zeigt, die uns das vor Augen führen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Die Liebe zum eigenen Ich, der Versuch, es ständig zu vervollkommnen, genauso wie der Respekt vor anderen Menschen und die Fähigkeit, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen und über sich lachen zu können. Ein Tanzabend mit kleiner Besetzung aber herausragender Qualität.

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DV8


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