Ihr Lieben,
ich möchte Euch heute Nachmittag eine Geschichte von Hans Albert Höntges erzählen:
„Die Geschichte vom Zeisig und von der Raupe“
„Ein kleiner Zeisig flog auf einen dünnen Ast und schaute um sich.
Eine Raupe kroch langsam vor ihm auf einen Stängel, an dem frische Blätter hingen.
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„Hallo Raupe“, sagte der winzige Zeisig, „wie geht´s denn so?“„Siehst Du doch“, sagte die Raupe, „ich futtere.“
„Schmeckt´s?“, fragte der winzige Zeisig.
„Und wie“, sagte die Raupe, „um die Zeit sind die Blätter am leckersten.“
„Und was planst Du so für die Zukunft?“, fragte der Zeisig.
„Zukunft? Ich kenne keine Zukunft. Ich krieche und futtere, das ist alles.“
„Niemand kann nur fürs Kriechen und Futtern leben“, sagte der Zeisig.
„Du hast gut reden; Du fliegst und kommst überall hin“, entgegnete die Raupe.
„Weißt Du was, Raupe?“, sagte der Zeisig.
„Nee!“ -
„Du wirst eines Tages auch fliegen.“
„Ich?“
„Ja – Du!“
„Jetzt hör mal gut zu“, sagte die Raupe. „Ich habe 32 Beine. Damit komme ich an Ästen und Stängeln gut zurecht. Aber nur, wenn ich mit meinen Beinen schön auf dem Stängel bleibe. Wenn ich loslasse: sofort freier Fall – und dann kann ich unten im Gras von vorne anfangen. Nee – fliegen ist bei mir nicht drin.“
„Hör mir doch mal ein paar Augenblicke zu, ohne gleich dazwischenzureden“, sagte der Zeisig.
„Okay, wenn es Dir Spaß macht – und wenn ich dabei futtern darf!“„Also“, sagte der Zeisig, „eines Tages wirst Du anfangen, Fäden um Dich herum zu ziehen. Die sind zuerst ganz weich, dann werden die hart. Das geht so lange, bis Du von den Fäden ganz eingesponnen bist. Ja – Du spinnst Doch total ein.“
Da sagte die Raupe: „Ich glaube, lieber Zeisig, Du sitzt zu oft auf Fensterbänken von Leuten, die viel Fernsehen gucken. Wenn einer von uns beiden spinnt, dann bist Du es. Ich spinne mich ein!!“ So einen Quatsch habe ich noch nie gehört!“
„Du wolltest doch zuhören“, sagte der Zeisig.
„Ist ja gut, ich bin ja schon ganz Ohr.“
„Wenn Du Dich dann ganz eingesponnen hast,“, fuhr der Zeisig fort, „dann wirst Du sehr müde, Du vergisst die leckeren Blätter, Du vergisst Deine 32 Beine, Du vergisst Stängel und Äste, Du vergisst alles – und dann weißt Du auf einmal überhaupt nichts mehr.
Und in dem Moment kommt ein ganz neues Leben in Dich.
Du spürst, wie Du Dich veränderst.
Die Schale, die Du aus den Fäden um Dich gesponnen hast, bricht auf und langsam bewegst Du Dich aus der Schale heraus, ganz langsam. Du siehst ganz anders aus, aber Du bist immer noch Du selbst.
Statt der 32 Stummelbeine hast Du jetzt ganz lange Beine. Auf Deinem Rücken spürst Du hauchdünne Flügel, die sind herrlich bunt. Die falten sich hetzt auseinander. Du bewegst die Flügel. Du spürst, Du kannst fliegen. Du bist immer noch Du selbst. Aber Du bist keine Raupe mehr. Du bist jetzt ein Schmetterling. Du schlägst mit den Flügeln und fliegst davon.“
Die Raupe hatte längst aufgehört zu futtern.
So hatte noch nie jemand zu ihr gesprochen.
Lange sagte die Raupe gar nichts.
Dann sagte sie: „Also – wenn das wahr ist, was Du sagst, dann ist es das Schönste, was es gibt in der Welt. Und wenn das nicht wahr ist?“
„Es ist ja wahr“, sagte der Zeisig. „Es passiert ja jedes Jahr Millionen Mal auf Millionen Ästen und Stängeln. Wenn das nicht wahr wäre, gäbe es keine Schmetterlinge.“
„Mach das“, sagte der Zeisig, aber ganz vorsichtig!“
Ihr Lieben,
nachdem ich in der letzten Woche viele Versandtaschen mit meinem Buch DAS ESELSKIND verschickt habe, bekomme ich jetzt immer mehr Nachrichten und E-Mails von lieben Leserinnen und Lesern, die mir für das Zusenden des Buches danken und mir ihre Hochachtung aussprechen, dass ich heute so ein fröhlicher Mensch bin, der sich für die Versöhnung, den Frieden, die Liebe, die Zuversicht und Freude einsetzt.
Ich selbst sehe das etwas anders: Vor mir braucht niemand Hochachtung zu haben, ich betrachte mich nicht als jemand, der etwas Besonderes leistet.
Als Kind war ich eine Raupe wie in unserer Geschichte. Ich kroch mühsam durch Leben und litt grauenvoll darunter, dass ich von so vielen anderen Raupen misshandelt, gequält und missbraucht wurde.
Aber ich hatte das Glück, dass mir andere, mir liebevoll gesonnene Raupen und auch kleine Zeisige begegneten, die mir trotz meiner Lage Mut machten, die mir zuriefen: „Gib niemals auf!“, Dein Leid wird nicht ewig anhalten, eines Tages wirst Du das Tal der Tränen verlassen, eines Tages wird aus Dir gequälten und misshandelten Raupe ein wunderschöner Schmetterling."
Vielleicht wäre ein anderes Kind, ein anderer Jugendlicher in meiner Lage verzweifelt, wäre unter all den Schlägen, Demütigungen und dem Missbrauch zusammengebrochen.
Ich aber hörte damals die Botschaft der Freude und der Liebe und saugte sie auf, sodass sie mein Herz erfüllte.
Und eines Tages geschah genau das, was ich nie für möglich gehalten hatte:
Ich verwandelte mich von einer kleinen gequälten, erniedrigten und missbrauchten Raupe in einem fröhlichen, lebensbejahenden Schmetterling, der erfüllt ist von Liebe und dem Gedanken der Hoffnung, der Zuversicht und der Freude.
Ich würde mich riesig freuen, wenn das, was ich tue, nichts Besonderes wäre, sondern wenn die Menschen lernen würden, dass es viel glücklicher macht, als Schmetterling die Botschaft der Liebe, der Freude und der Zuversicht in diese Welt hineinzutragen, als als Raupe weiter gequält und gezeichnet von den Misshandlungen des Lebens durch die Welt zu kriechen und Gott und die Menschen für das eigene Leid anzuklagen.
Ich wünsche Euch allen, dass ihr zu wunderschönen Schmetterlingen werdet und Freude am Leben habt.
Ich wünsche Euch heute einen fröhlichen zuversichtlichen Nachmittag und guten Flug als Schmetterling!
Ich grüße Euch herzlich aus Bremen
Euer heiterer Schmetterling Werner
Quelle: Karin Heringshausen