Raum und Geist – untrennbar

Von Rangdroldorje

Der Erhabene erwiderte: „Oh Geist-Vajra, untersuche die Dimensionen deines sogenannten Geistes, dann begründe und erkenne seine wesentliche Natur. Sind sowohl der äußere Raum und der innere Geist gleich oder verschieden? Wenn sie gleich sind, dann muss die wesentliche Natur des Geistes Raum sein. Wenn sie verschieden sind, dann müsstest du zustimmen, dass Raum in einem Traum, Raum am Tag und Raum nach diesem Leben nicht eins, sondern verschieden sind. Wenn der vorherige Raum vergeht und die nachfolgenden Räume einer nach dem anderen auftaucht, dann müsste jeder Raum Gegenstand von Verwandlung, Schöpfung und Zerstörung sein. In diesem Fall ermittle die Ursachen und Bedingungen, aus denen sie entstehen. Wenn der Raum manifest am Tag aufgrund des Sonnenaufgangs am Morgen erscheint, warum bewirkt die Sonne dann nicht, dass er in einem Traum oder nach diesem Leben erscheint? Oder ist er das Klar-Licht deines eigenen Geistes? Mach nicht bloße Lippenbekenntnisse, sondern durchdringe dies vielmehr mit Gewissheit.“
Mahasahasrananta antwortete: „Oh Lehrer, Bhagavan, Raum ist unbestreitbar als die essentielle Natur meines Geistes festgelegt. Während des Tages zeigen sich Erde, Wasser, Feuer, Luft, das Selbst, andere, Form, Klang, Geruch, Geschmack, Berührung und Geistesobjekte im Berech des Raumes und der Geist hält sie durch die Mittel der Begrifflichkeit. In Traumerscheinungen erscheint der Grund des Geistes genauso als Raum und die gesamte Welt, ihre Bewohner und Sinnesobjekte zeigen sich so, wie sie es zuvor taten. In zukünftigen Leben erscheint auch die wesentliche Natur des Geistes als Raum und in diesem Bereich erscheinen auf dieselbe Art und Weise die ganze Welt, ihre Bewohner und Sinnesobjekte. Sie werden vom Geist gehalten und man ist wieder und wieder voller Illusionen.
Daher sind Raum, das Selbst, andere und alle Sinnesobjekte von einem Geschmack und sie sind gewiss nicht verschieden. Außerdem ist es die Lebendigkeit des Raumes selbst und nichts anderes, dass Erscheinungen manifest werden lässt. Die essentielle Natur des Geistes und der Grund ist Raum selbst. Verschiedene Erscheinungen treten im Bereich des geistig erkennenden, durchsichtig, klaren, für immer präsenten Bewusstseins auf. Der Ausdruck dieser Erscheinungen ist wie die Spiegelungen in einem Spiegel oder die Abbilder von Planeten und Sternen in einem Teich von durchsichtig klarem Wasser. Sobald das durchsichtig klare Bewusstsein in den zentralen Bereich des durchdringenden, leeren Raum eingetreten ist, wird es nach innen gelenkt. Dabei verschwinden der Geist und alle Erscheinungen und breiten sich unendlich in die wertneutrale, durchdringende Leerheit aus. Ich habe festgestellt, dass aufgrund des Greifens nach einem Selbst, die große durchdringende Leerheit, die essentielle Natur des Grundes als der Geist und die Geistesfaktoren erscheinen. Der Raum und die Lebendigkeit sind nichts anderes als die Realität des durchsichtigen, klaren Geistes selbst, die als ein Ergebnis von Bedingungen im Selbst und andere zerfällt.
Einfach indem man den Geist zum Pfad macht, erfährt eine Person mit überragenden Fähigkeiten die Seinsnatur der Soheit, die die Dharmata ist und realisiert die umfassende Sicht von Samsara und Nirvana und erlangt Befreiung im angeborenen Bereich des Raumes. Eine Person mit durchschnittlichen Fähigkeiten erlangt Überzeugung im formlosen Bereich und eine Person mit geringen Fähigkeiten erfährt Freude im Formbereich. Von einer Person mit den geringsten Fähigkeiten wird der Pfad als Glück im Begierdebereich erlebt. Möge der Lehrer erklärten, wie das so ist!“

Stille kultivieren

Der Lehrer antwortete: „Oh Geist-Vajra, zuerst einmal vermische diesen Geist mit dem äußeren Raum und verweile sieben Tage lang in meditativem Gleichmut. Dann fixiere deine Aufmerksamkeit auf einen Stein, einen Stock, eine physische Repräsentation des Buddha oder einen Buchstaben und verweile sieben Tage lang in meditativem Gleichgewicht. Dann imaginiere einen klaren, strahlenden, fünffarbigen Bindu in deinem Herzen, fixiere deine Aufmerksamkeit auf ihne und verweile sieben Tage lang in meditativem Gleichmut. Als ein Ergebnis bleibt der Geist für einige Leute glückselig, strahlend und gedankenlos. Diese Erfahrung frei von Gedanken ist wie Ozean frei von Wellen und das nennt man Stille von Zeichen erfüllt. Einige können keine bremsen, da der Geist so aufgeregt ist und sie erleben unbequeme Krankheit und Schmerz im Herzen, dem Lebenskanal usw. Jene mit einem instabilen Geist, mit einer Beeinträchtigung durch Wind oder einem nicht verfeinerten Geist können ohnmächtig werden oder in eine Trance fallen. In diesem Fall entspanne dich und lass die Gedanken so wie sie sind und beobachte sie beständig mit großer Achtsamkeit und enthüllender Innenschau. Ruhe ohne an irgendetwas zu denken wird Stille im Bereich der essentiellen Natur genannt. Die Schwankung und das Erscheinen verschiedener Gedanken wird Bewegung genannt. Keine Gedanken unbewusst zu belassen, sondern sie durch die Methode der Achtsamkeit und Innenschau zu kennen, wird Gewahrsein genannt. Mit dieser Erklärung erkenne sie.
‚Um nun für lange Zeit im Bereich der essentiellen Natur zu verweilen, beobachte die Bewegung, halte deinen Körper gerade, bewahre wachsame Achtsamkeit und beobachte!‘ Wenn du das sagst und es in die Praxis umsetzt, dann vergehen die schwankenden Gedanken nicht, noch verlierst du dich wie gewöhnlich in ihnen, sondern sie werden aufgrund des achtsamen Gewahrseins offengelegt. Durch das unaufhörliche Bemühen die ganze Zeit über, sowohl während als auch zwischen den Meditationssitzungen, werden schließlich alle groben und subtilen Gedanken im leeren Bereich der essentiellen Natur beruhigt werden. Du wirst in einem nicht schwankenden Zustand verweilen und dich darin festigen, in dem du Freude wie die Wärme eines Feuers, Klarheit wie bei Tagesanbruch und Nicht-Begrifflichkeit wie ein von Wellen unbewegter Ozean erfahren wirst. Wenn du danach verlangst und daran glaubst, dann wirst du nicht in der Lage sein, dich davon zu trennen und du wirst daran anhaften. Wenn du in dieser Freude gefangen bist, dann wird dich das in den Begierdebereich werfen, wenn du in Klarheit gefangen bist, dann wird dich das in den Formbereich werfen und wenn du in Gedankenfreiheit gefangen bist, dann wird dich das auf den Gipfel der weltlichen Existenz werfen. Daher wisse, dass diese, obwohl sie unverzichtbare Zeichen des Fortschritts für Individuen sind, die in den Pfad eintreten, ist es ein Fehler, in ihnen für immer gefangen zu sein.

Pfad der Ruhe

Das wird gewöhnliche Ruhe auf dem Pfad genannt und wenn du Stabilität für lange Zeit darin erlangst, dann wirst du das entscheidende Merkmal der Beständigkeit in deinem Geistesstrom erlangen. Sei dir jedoch bewusst, dass unter den unkultivierten leuten in diesem verdorbenen Zeitalter nur sehr wenige scheinbar mehr als eine flüchtige Stabilität haben. Heutzutage erscheinen ihnen die erwählten Gottheiten einiger Leute und sie beruhigen ihre Aufmerksamkeit mit der Gottheit. Einigen erscheinen Visionen von Buddha-Feldern und sie stabilisieren und beruhigen ihren Geist damit. Einige erleben speziell Freude, Klarheit oder Gedankenfreiheit und sie ruhen darin. Einigen erscheinen Bilder ihres spirituellen Führers, Regenbögen, Lichter und Bindus, somit ruhen sie auf diesen usw. Wisse, dass es aufgrund der Funktion der Kanäle und Elemente von jedem einzelnen keine Einförmigkeit und Gleichheit in ihren Erlebnissen gibt.“

Aus dem Vajra-Herz-Tantra von Dudjom Lingpa. Übersetzt von Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2014)

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