Dieser Sommer ist selbst für englische Verhältnisse ziemlich verregnet. Es leuchtet mir ein, dass es wohl keinen Zweck hat auf besseres Wetter zu hoffen. Schließlich habe ich mir mittlerweile ein gutes Sortiment an wasserdichter Ausrüstung zugelegt. Eigentlich wandere ich auch ganz gern durch den Regen. Das fühlt sich irgendwie natürlich an. Außerdem habe ich den Eindruck, der englische Regen ist weitaus weicher und sanfter zu meiner Haut als der deutsche, der oft unangenehm beißt und zwackt. Also schließe ich mich spontan doch noch dem länger geplanten Campingtrip an, der uns diesmal in die benachbarten Dales von Derbyshire führt.
Derbyshire ist eine englische Grafschaft in den East Midlands, die sehr hügelig ist. Der größte Teil des Peak District National Parks liegt in ihrem Einzugsbereich und die mächtigen Pennines nehmen hier ihren südlichen Anfang. Weit in die Landschaft ragende Hügelketten beherbergen faszinierende unterirdische Höhlensysteme und legendäre Kalksteinformationen. In den Tälern locken hübsche Marktstädtchen wie Bakewell zum Verkosten regionaler Spezialitäten oder einem erfrischenden Pint in den zahlreichen Pubs.
Die abwechslungsreiche Natur der Derbyshire Dales lässt Wanderherzen höher schlagen und die Gegend ist mit Campingplätzen reich bestückt. Meist sind diese an Bauernhöfe angeschlossen und versprühen einen ländlichen, rustikalen Charme. Seien es vereinzelte Backpacker, Wandergruppen oder Familien mit komfortablen Wohnwagen, die großzügigen Wiesen bieten ausreichend Platz für jede Art von Campingfreuden. Wer kein Auto hat und gut zu Fuß ist, kann sich abends im nächstgelegenen Pub stärken, muss dafür aber meist mehrere Kilometer zurücklegen, ansonsten ist Selbstversorgung angesagt, denn ein Zeltplatzimbiss findet sich nur selten.
Wir campen auf der Rowter Farm in der Nähe des Städtchens Castleton. Es ist erstaunlich, was man alles mitschleppt, wenn man mit dem Auto auf den Zeltplatz fährt. Der gesamte Hausrat steckt in unseren Rucksäcken, nur ein paar bequeme Campingstühle fehlen noch zu unserem Glück. Mitten in der Schulferiensaison ist der Zeltplatz gut besucht, aber das stört uns wenig, denn wir sind eh die meiste Zeit unterwegs. Kaum haben wir unser Zelt aufgebaut, macht sich unser Grüppchen auf den Weg Richtung Mam Tor, dem „Mutterhügel“ der Region. Der Name leitet sich von der Tatsache ab, dass sich durch mehrere Erdrutsche an dessen Ostseite im Laufe der Zeit lauter kleinere Hügel gebildet haben. Aufgrund seiner instabilen Schieferschichten wird er auch „Shivering Mountain“ (deutsch: Zitternder Berg) genannt. 517 Meter ragt Mam Tor in die Lüfte. Auf dem Gipfel thronte einst eine spätbronzezeitliche Hügelfestung.
Der Aufstieg auf den von Touristen umschwärmten Aussichtspunkt ist von heftigen Schauern geprägt. Ab und zu blitzt die Sonne durch die dunkelgraue Wolkendecke, versteckt sich jedoch, sobald man sich über ihre Anwesenheit freut. Auf dem Plateau zerrt ein eisiger Wind an unseren Körpern. Mehrmals werden wir nah an den Abhang geweht. Zum Glück bin ich durch einen Rucksack beschwert. Der Ausblick auf die Täler von Edale und Hope Valley bestätigt auf fulminante Weise: Die Derbyshire Dales können locker mit den Yorkshire Dales mithalten.
Wieder einmal staune ich über die Kleidungsgewohnheiten weiblicher Hügelbesteigerinnen. In Daunenjacke und wasserabweisende Hosen gehüllt, friere ich mich fast zu Tode, als ich eine junge Frau erblicke, die in superkurzen Pants, die nur halb ihr Hinterteil bedecken, dünnem Sweatshirt und Stoffschühchen, die ich normalerweise als Gartenschuhe trage, über den Rücken von Mam Tor spaziert. Leider verzückt mich dieser Anblick wenig, denn oft wird genau wegen solcher Dummheiten die Bergrettung (Mountain Rescue) gerufen und wichtige Ressourcen verschwendet. Und wenn wir schon mal bei waghalsigen Manövern sind, können wir auch gleich einen Blick auf die abenteuerliche Komponente der Derbyshire Dales werfen. Hierzu müssen wir uns jedoch unter die Erde begeben, denn dort befinden sich die geheimnisvollen, mit wertvollen Mineralien angereicherten Tropfsteinhöhlen.
Zu den bekanntesten, der Öffentlichkeit zugänglichen Höhlensystemen zählen die Blue John Cavern, die Speedwell Cavern, die Peak Cavern und die Treak Cliff Cavern. Seit Jahrhunderten wird hier nicht nur Blei, sondern vor allem auch ein sehr begehrter Edelstein abgebaut, der sogenannte Blue John, ein Fluoritgestein, das bläulich-gelb schimmert. Der Abbau begann dem Auftreten in dekorativen Elementen nach zu urteilen vermutlich Mitte des 18. Jahrhunderts. Ähnliche Gesteine kommen zwar auf der ganzen Welt vor, aber nur hier in Derbyshire, unter dem Hügel, der den Namen Treak Cliff trägt, existiert das Gestein in gebänderter Form. Natürlich lassen wir uns dieses Vergnügen nicht nehmen und stapfen neugierig hinein in die Treak Cliff Cavern. Diese unterirdischen Höhlen verdanken sich übrigens dem kontinuierlichen Werk oberirdischer Bäche, die durch Risse im Kalkstein drangen und diesen allmählich auflösten, bis sich solche gigantischen Hohlräume bildeten.
Ein netter Höhlenführer geleitet uns mit zahlreichen Hintergrundinfos durch die verschiedenen Gänge und Schächte. Je tiefer wir hinabsteigen, destso kühler und feuchter wird die Luft. Ich schließe meine Daunenjacke und lausche mit klappernden Zähnen den Geschichten der ersten Minenarbeiter. Von den rostfarbenen Höhlenwänden hängen unzählige Stalaktiten, die uns wie raubtierartige Fangzähne drohend entgegenblitzen. Überall haben sich mineralische Ablagerungen gebildet, die teilweise bizarre, phantastische Formen annehmen. Zur Untermauerung der surreal anmutenden Umgebung tragen die verschiedenen Bereiche der Höhle Namen wie Witch’s Cave, Fossil Cave, Aladdin’s Cave, Fairyland, Dream Cave. Natürlich dient das ganze Arrangement vor allem auch dazu, Touristen im angeschlossenen Shop mit dekorativen Schalen, Schmuck oder sonstigem Schnickschnack zu versorgen. Doch als wir die Höhle verlassen, steht uns nicht der Sinn nach Souvenirschnäppchenjagd. Wir wollen weiter. Ein mehrstündiger Marsch nach Castleton steht noch bevor. Dabei fällt mir auf, dass die Fußwege in dieser Region viel besser in Schuss gehalten sind als in der Umgebung unseres Dorfes. Jedenfalls muss sich hier niemand durch meterhohe stachelige Brombeerbüsche schlagen, die ein grummliger Farmer mit Absicht mitten auf den Wanderweg gepflanzt hat, um den freien Zugang zu erschweren. Auch die am Wegesrand mümmelnden Schafe sind weniger scheu und kommen ganz gut mit den an ihnen vorbeirauschenden Ausflüglern zurecht. Ab und zu posieren sie sogar freiwillig für ein Foto.
Das mit zahlreichen Pubs, Outdoorshops und Souvenirlädchen versehene Städtchen Castleton liegt direkt da, wo die hellen Kalksteinfelsen des White Peak in die dunklen Sandsteinformationen des Dark Peak übergehen. Das heißt inmitten einer Region, die scharenweise Outdoor-Enthusiasten anzieht. Über dem Ort , auf einer Anhöhe, thront die namensgebende Burgruine Peveril’s Castle (oder auch Peak Castle oder Castleton Castle genannt). Diese befand sich einst im Besitz des William Peverel, einem einflussreichen adligen Baron in den nördlichen Midlands. Nach der normannischen Eroberung im Jahr 1066 hatte ihn Wilhelm der Eroberer (William the Conqueror) mit zahlreichen Ländereien vor allem in Nottinghamshire und Derbyshire bedacht. Aufgrund dieser großzügigen Geste brodelte die Gerüchteküche und manche Quellen spekulieren, der Gefolgsmann des Königs sei in Wahrheit dessen illegitimer Sohn gewesen. Peverel baute mehrere Burgen, darunter Peveril’s Castle. Nach zahlreichen Besitzerwechseln und Umbauten entschied der Duke of Lancaster, John of Gaunt (1340–1399), ein Sohn König Edwards III. von England (1312–1377) schließlich, die für ihn wenig bedeutsame Burg zu schleifen und zugunsten anderer Bauprojekte abzutragen. Seitdem verfiel das Anwesen und diente nach dem 16. Jahrhundert nur noch Schafen und anderen Nutztieren als Unterschlupf. Bis heute befindet sich das Bauwerk im Besitz des Herzogtums Lancaster, ist jedoch inzwischen hier und da ausgebessert worden und wird nun als denkmalgeschütztes Gebäude von der Wohltätigkeitsorganisation English Heritage verwaltet.
Nach unserer mehrstündigen Wanderung ist eine erneute Hügelbesteigung nicht wirklich verlockend. Daher erfrischen wir uns vorerst im beliebten Bulls Head, bevor wir über unbekannte Pfade wieder Richtung Campingplatz aufbrechen. Inzwischen hat sich der Himmel aufgeklart und wir können nochmal Spätsommersonne tanken. Da wir mit unseren Modderbotten nicht den flauschigen Pubteppich runieren wollen und leider unser Gruppenhund Oskar dank einem gut sichtbaren Schild an der Tür eh draußen bleiben muss, haben wir uns auf den Außenbänken an der Straße niedergelassen.
Direkt vor uns rast ein älterer Herr aus der Seitengasse in den Hauptverkehr und rammt scheppernd ein Gefährt. Zum Glück wird niemand verletzt, dennoch erinnert mich der laute Knall unverblümt daran, wie fragil doch die schönen Momente des Lebens sein können. Also schließe ich meine Augen, schöpfe einen tiefen Zug aus der mich umgebenden Sommerluft und versuche, das Hier und Jetzt so lange wie möglich und so gut es geht zu genießen.
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Und hier liegt das hübsche Castleton: