Support: Jatekok
München, 8 Juni 2019
Man muss nicht Philosophie studiert haben, um zu wissen, dass die Zeit des Menschen größter Widersacher ist: Sie läuft uns davon, rinnt durch die Finger, kommt nie zurück, heilt keine Wunden, lässt sich nicht aufhalten und wenn sie dann doch mal stehenbleibt, dann in den unpassendsten Momenten. Die Zeit ist gnadenlos, unnachgiebig und gibt uns das Gefühl der Ohnmacht. Kurz: Sie ist nicht unser Freund. Auch weil sie stets trügt. Eine alte Regel besagt, dass man ein geliebtes Buch, einen Film aus der Kindheit oder Jugend kein zweites Mal lesen oder sehen sollte, man wäre immer enttäuscht, die schöne Erinnerung dahin. Wie es also halten, wenn man vor sehr, sehr langer Zeit, also sagen wir mal vor vierundzwanzig Jahren, ein Konzert erlebt hat, von dem man damals noch nicht wusste, wie es einzigartig war. Okay, auch Rammstein selbst dürften das damals nur geahnt haben. Herzeleid, die erste Platte, vor 300 Leuten im vollgepackten Münchner Nachtwerk. Elf Songs, mehr gab es noch nicht, dazu ein paar Flammenstöße unter die Saaldecke, infernalischer Krach, elendige Hitze, verschwitzte Körper – es war wunderbar. Geht man dann trotzdem in ein Stadion, gemeinsam mit zehntausenden Menschen, manche mit ähnlichen Erlebnissen, einige wenige mit Biografien, die noch in die bewegten Anfangstage zurückreichen, Inchtabokatables, Firma, Feeling B, dieser Art Vergangenheit?
Man war gewarnt. Und wusste deshalb, dass das Erlebnis nicht das gleiche, sondern maximal ein anderes gutes werden würde. Und tatsächlich auch war. Denn Rammstein im Kleinen sind eine sehr spezielle Erfahrung, im Großen sind sie von beeindruckender Wucht. Der Stadionsound erfreulich satt, die Hitze bei vollem Arsenal atemberaubend, die Kulisse als leicht entflammbare Mischung aus Barad-dûr, Kreml und Zechenturm schwer beeindruckend. Ein Vorteil sicher, dass ihr neues Album ein vergleichsweise gutes ist, mit Hits, die im wahrsten Wortsinn zünden und sich zwischen den alten, sicheren Nummern nicht verstecken müssen. „Deutschland“ beispielsweise, als technoider Kruspe-Remix von der Kanzel eröffnet, der überraschenderweise ganz ohne missverständliches Gegröle auskommt, „Radio“ mit gelungener Kraftwerk-Hommage (die sonst tollwütigen Berserker als lustig tanzende Strichmännchentruppe, haha), der brennende Kinderwagen inklusive animierter „Puppe“ und ein dramatisch überzeichnetes, sakrales „Zeig dich“.
Überhaupt, Rammstein an Pfingsten – Feuerzungen über beseelt dreinblickenden Massen, viel mehr an ketzerischen Parallelen braucht es an einem Abend wie diesem nicht. Die Gesichter wirken glücklich, beeindruckt, auch amüsiert. Wer letzteres gelernt hat, dem bietet ein solches Konzert nämlich (das ins Stammbuch der Stumpfgläubigen hüben wie drüben, der Freiwildler ebenso wie der Moralisten und allgegenwärtigen Wächter der roten Linien) jede Menge Spaß. Auch unfreiwilligen: Wenn beispielsweise das Handysymbol am hell erleuchteten Firmament erscheint, wird schnell klar, wer hier folgt und wer für’s führen zuständig ist. Die Setlist jedenfalls wie gemacht für die allgemeine Verzückung – „Links 2 3 4“ gleich am Anfang, mit Kochtopf („Mein Teil“), Schiffspassage („Seemann“) und Spermakanone („Pussy“) sind alle Klassiker dabei und weil auch „Sonne“ als Pyro-Peak plus Zugaben „Rammstein“ und „Ich will“ nicht fehlen, verlässt man nach gut zwei Stunden die Arena mit dem befriedigenden Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Das scheint im Übrigen für beide Seiten gegolten zu haben, denn ganz am Schluß gibt‘s – eher untypisch für die Band – noch eine kleine Grußnote mit persönlichem Dank an München. Hört man gern.
Blick vom Olympiaturm, Quelle: Twitter