Manche Romane brauchen den richtigen Zeitpunkt. So kommt es, dass ich mich auf dieses bereits im Juni 2015 erschienene Buch erst jetzt einlasse. Bisher mochte ich Rothmanns Romane deshalb besonders, weil sie von der Gegenwart im Ruhrpott, in Polen oder in Berlin erzählten. Weil sie auch von der Liebe erzählten.
Ich will keine Kriegsgeschichte, dachte ich. Bis ich im Urlaub im kleinen Bücherregal des Hotels Im Frühling sterben entdeckt und die ersten Sätze gelesen habe. Ich spürte ihn sofort, diesen ganz bestimmten Erzählton, den ich so sehr schätze und der mich immer wieder zum Lesen seiner Geschichten verführt. Denn Ralf Rothmann gelingt es, ganz normalen Alltag in Literatur zu verwandeln. Seine Romane kommen mit weniger als 300 Seiten aus und erzählen kompakte tiefgreifende Geschichten. Ohne überflüssige langatmige Textpassagen und auf das Wesentliche reduziert, stimmt bei ihm jeder Satz!
Diesmal also die Geschichte einer Freundschaft im Krieg. Bevor der Blick des Erzählers zurück geht in den Frühling 1945, beginnt er sich zu erinnern, dass es immer so schwer war, mit dem Vater über diesen Krieg zu reden. Erst viel später wird ihm klar, dass Walter über die erfahrenen Kränkungen und Verletzungen nicht sprechen konnte. Nie! Wie soll man in Worte fassen können, wie es sich anfühlt, den besten Freund erschießen zu müssen?!
Sprach ich meinen Vater früher auf sein starkes Haar an, sagte er, das komme vom Krieg. Man habe sich täglich frischen Birkensaft in die Kopfhaut gerieben, es gebe nichts Besseres … Und auch wenn Birkensaft und Krieg für ein Kind kaum zusammenzubringen sind – ich fragte nicht weiter nach, hätte wohl auch wie so oft, ging es um die Zeit, keine genauere Antwort bekommen. Die stellte sich erst ein, als ich Jahrzehnte später Fotos von Soldatengräbern in der Hand hielt und sah, dass viele, wenn nicht die meisten Kreuze hinter der Front aus jungen Birkenstämmen gemacht waren (Seite 7).
Erst nach dem Tod des Vaters kann Ralf Rothmann dessen Geschichte erzählen, die Geschichte zweier Freunde, die im Frühling 1945 für die SS-Division Frundsberg zwangsrekrutiert werden. Beide sind erst 17 Jahre alt und hatten als Melker gehofft, ihre Arbeit sei zu wichtig, als dass sie zur Front müssten. Und während Walter das Glück hat, als Fahrer eingesetzt zu werden, muss Fiete an die Front.
Wir erleben den Krieg in seinen letzten Atemzügen. Bestialisch, grausam, sinnlos. Rothmann verwandelt diese schmutzigen Ereignisse sprachlich in ästhetische Bildmomente. So ist das Gefühl des Grauens beim Anblick der Toten am Galgen mit den von Ratten angeknabberten Zehen oder des Waschbeckens voll amputierter Arme und Beine irgendwie zu ertragen, weil diese Schilderungen sich nicht über Seiten erstrecken. In einen einzigen Satz gepackt, erstarren diese Szenen zum Bild. Dann kommt der nächste Satz, der möglicherweise etwas über Sesamkringel oder zartgrüne Forsythien erzählt. Immerhin ist doch Frühling! In den Wäldern beginnt das Leben. Auch wenn drumherum die absurdesten Dinge geschehen, scheint alltäglich die Sonne am unvorstellbar blauen Himmel. Außerdem wächst eine leise Hoffnung auf ein nahes Ende des Krieges. Doch durfte darüber natürlich nicht gesprochen werden. Und so stehen auch bei Rothmann viele Dinge einfach zwischen den Zeilen, werden nur zart angedeutet. Ohne ein überflüssiges Wort! Als überraschend und sehr berührend empfand ich das tiefe Mitgefühl des Autors mit seinen Figuren. Grandios, wie er sich in die Gedanken und Sehnsüchte der beiden Jungs einfühlt!
Ralf Rothmann wurde in diesem Jahr mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Den mit 20.000 € dotierten Preis erhält er am 19.11.17 in Berlin. Und ich gratuliere ihm schon jetzt von ganzem Herzen. Frühere Preisträger waren u.a. Herta Müller, Daniel Kehlmann, Navid Kermani und erst im letzten Jahr Yoko Tawada.
Vielleicht wäre es aus diesem Anlass passend, einen seiner frühen Romane ein zweites Mal zu lesen? Junges Licht, Hitze un Feuer brennt nicht habe ich so sehr geliebt.
Doch, stop! Ich habe gerade eine sehr preiswerte Hardcover-Ausgabe von Milch und Kohle entdeckt und bestellt. Sowie der Postmann bei mir klingelt und eine Buchsendung bringt, weiß ich, was ich demnächst lesen werde
Ralf Rothmann. Im Frühling sterben. Suhrkamp Verlag. Berlin 2015. 234 Seiten. 19,95 €
Alle Romane und Erzählungen von Ralf Rothmann gibt es als Taschenbuch-Ausgabe beim Suhrkamp Verlag Berlin.