Radikale Selbstliebe: So bringst du deinen inneren Kritiker zum Schweigen

Wir führen jeden Tag permanent Selbstgespräche. Diese sind oft unbemerkt, laufen aber wie ein Tonband immer weiter. Die innere Stimme geht oft hart mit uns ins Gericht. Erfahre hier erste Übungen wie du dich mit deinem Kritiker versöhnen lernen kannst.

Ich sitze im Café und lausche zwei Freundinnen, die sich schon länger nicht mehr gesehen haben:

„Schön, dich wiederzusehen. Wow, es ist wirklich mega lange her. Du bist ganz schön alt geworden. Und ist die Hose nicht eigentlich viel zu eng für dich?" „Wow, ja, das tut echt nicht gut zu hören, aber recht hast du. Ich freue mich ebenfalls dich wiederzusehen, meine Liebe. Aber krass wie viel ein paar Jahre auch bei dir ausmachen können. Du bist ganz schön dick geworden und die winterliche Blässe steht dir überhaupt nicht. Warst du schon länger nicht mehr im Urlaub?"

Die kleine Geschichte erzähle ich immer sehr gern, weil sie als Erstes eine große Empörung auslöst. Wie kann es sein, dass vermeintlich gute Freundinnen so miteinander reden? Ganz ehrlich: Ich würde sofort aufstehen und gehen und vielleicht sogar die Freundschaft kündigen. Wenn wir so etwas am Nebentisch hören würden, würden wir vielleicht sogar einschreiten und etwas dazu sagen. Wie kann man nur so mit sich umgehen? Sozial akzeptiert ist dieser Umgang definitiv nicht!

Nagut, jetzt kommt die Auflösung: Diese Geschichte soll unser tägliches Selbstgespräch darstellen. Wenn zwei Freundinnen so miteinander sprechen löst das Empörung aus, aber wer sagt etwas zu deiner inneren Stimme, wenn sie heute mal wieder besonders streng zu dir ist? Wer spricht schon den ganzen Tag so mit sich wie mit seiner besten Freundin?

Wohl eher selten kommt dir so ein Selbstgespräch bekannt vor: „ Wow, siehst du heute wieder gut aus. Zwar nicht lang geschlafen, aber ... jaaa, ein Blick in den Spiegel verrät nichts darüber. Auch deine Haare sitzen heute wieder besonders gut. Und die Klamotten stehen dir heute 1a. So kannst du raus gehen ..."

Stattdessen kennen wir sie, die ewigen Selbstgespräche über unsere Problemzonen. Der innere Kritiker, der irgendwie nie Ruhe geben will. Kennst du die Momente, an denen du nicht raus gehen willst, weil du dich unwohl oder nicht gutaussehend genug fühlst? Da klopft er wieder an deine Tür, der innere Kritiker: Hallo Selbstwertgefühl!

Bei den einen ist der innere Kritiker mehr, bei den anderen weniger stark ausgeprägt. Doch bei (fast) jedem ist er vorhanden. Das Tückische ist: Er bleibt zu oft unbemerkt. Wenn wir Glück haben, können wir ihn beim Schlafittchen packen und ihn mal für einen Moment einsperren oder seine Stimme leiser werden lassen. Aber wie geht das?

Exkurs: Selbstwert

Wenn wir über diese innere Stimme, unseren inneren Kritiker sprechen, macht es Sinn, dass wir uns das Konzept „Selbstwert" zunächst anzuschauen. Unterteilt man das Wort in „Selbst" und „Wert" wird schnell klar, dass man unter Selbstwert den Wert versteht, den man sich Selbst zuschreibt.

Der Selbstwert bzw. das Selbstwertgefühl setzt sich aus vier Säulen zusammen (Potreck-Rose & Jacob. Selbstzuwendung, Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen, 2003):

  1. Selbstakzeptanz, also einer positiven Einstellung zu sich selbst als Person
  2. Selbstvertrauen, also einer positiven Einstellung zu den eigenen Fähigkeiten und Leistungen
  3. Soziale Kompetenz, also die Fähigkeit mit anderen in Kontakt zu gehen
  4. Soziales Netz, also das Eingebundensein in positive soziale Beziehungen

Es gibt enge theoretische Zusammenhänge zwischen einem geringen Selbstwert und Depression. Nach Seligmans Depressionsmodell sind Depressionen das Resultat der Erfahrung von fehlender Kontrolle über subjektiv wichtige Bedingungen.

Wenn der Partner sich beispielsweise für jemand anderen interessiert, bewerten Menschen mit Depression diese Erfahrung als global, stabil und internal, d. h., sie gehen davon aus, dass sie auch über andere wichtige Bedingungen keine Kontrolle besitzen (=global), dass sich das nicht ändern wird (= stabil) und dass sie daran selbst schuld sind (= internal).

Diese Haltung führt zu einer generalisierten Misserfolgserwartung hinsichtlich zukünftiger Ereignisse und somit einem geringen Selbstwert. Und das wiederum ist eng mit depressiven Zügen verknüpft.

Wie kann ich also mein Selbstwertgefühl stärken und mich radikal selbst lieben?

Den ersten wichtigen Schritt habe ich bereits vor dem Exkurs genannt. Er lautet: Bewusstwerdung. Dieser Punkt ist meiner Meinung nach der Schlüssel zu fast allen Problemen. Vielleicht kennst du die Metapher vom Eisberg, wenn es um das menschliche Bewusstsein geht.

Ca. 5% unserer Verhaltensweisen und Gedanken sind uns bewusst. Das wird oft als die Spitze des Eisbergs gesehen. Die anderen 95% sind Unbewusst. Das ist eine gewaltige Zahl an unbewussten bzw. automatischen Prozessen, die da in uns vorgehen.

„Blinde Flecken" können nicht bearbeitet werden. Nur dann, wenn du deine Gedanken und Verhaltensweisen erkannt hast, kannst du daran auch etwas ändern. Ansonsten bist du in der Verleugnung deiner Verhaltensweisen. Das Drama ist somit vorprogrammiert.

Wenn du dir z.B. zum zehnten Mal etwas vornimmst, aber dich „etwas" immer wieder davon abhält, dann ist das ein klassisches Beispiel für deine unbewussten Prozesse, die dich von deinem bewusst gesteckten Ziel abhalten.

Ich verändere mich nicht, indem ich versuche, etwas anderes zu sein, als ich bin. Ich verändere mich, indem ich voll anerkenne, wer ich jetzt gerade bin. Zen Sprichwort

Ich finde das Zitat sehr schön, denn es zeigt auf, dass Heilung nur durch Akzeptanz passieren kann. Löst man den inneren Widerstand auf, kann man sich sein Problem liebevoll anschauen und von diesem Punkt aus Lösungen finden. Aus diesem Grund sollte die Akzeptanz auch radikal, also komplett sein, sonst löst sich der Widerstand nicht auf.

Ich zeige dir ein Tool, wie du den Widerstand lösen und die Akzeptanz aktivieren kannst.

Schritt 1: Unbewusste Prozesse bewusst machen

Veit Lindau beschreibt in seinem Buch über radikale Selbstliebe „Heirate dich selbst" eine schöne Übung. Die Übung regt dich dazu an, dir erst einmal alle Gedanken und Verhaltensweisen bewusst zu machen, mit denen du dich selbst sabotierst.

Auf den ersten Blick macht es vielleicht keinen Sinn, sich mit den negativen Aspekten auseinanderzusetzen. Doch nur wenn du wirklich hinschaust, kannst du auch etwas verändern. Verleugnung oder Verdrängung macht deinen Selbstwert nicht besser und führt dich ins genaue Gegenteil. Die Problemzonen werden (innerlich) immer größer und von allein löst sich so ein Problem für gewöhnlich nicht in Luft auf.

Alle Hindernisse und Schwierigkeiten sind Stufen, auf denen wir in die Höhe steigen. Nietzsche

Übung: Deine äußeren und inneren Kriegsschauplätze anerkennen

Schreibe dir folgende Punkte auf:

  1. Gehe zuerst alle Problemzonen deines Körpers durch und schreibe auf, was dich daran stört
  2. Dann widme dich deinem Sein: Welche Charakterzüge lehnst du ab?
  3. Was kannst du dir nicht verzeihen? Was wirfst du dir vor?
  4. In welchen Situationen machst du dich klein oder verachtest dich?
  5. Auf welche Arten kämpfst du gegen dich? Mental, physisch?
  6. Wie sabotierst du dein Glück?

Schritt 2: radikale Akzeptanz

Im Anschluss geht es darum, diese Wunden anzuerkennen. Das Paradoxe an der Sache mit der Selbstsabotage ist, dass wir erst durch Anerkennung unsere Problemfelder eine wirklich profunde Veränderung herbeirufen können. Vielleicht hilft dir die Metapher mit dem Geist unterm Bett.

Als Kind konnte ich manchmal nicht einschlafen, weil ich dachte etwas würde im Schrank sitzen. Der Gedanke und die Angst wurden immer größer und erst als ich nachgesehen hatte und dort nichts im Schrank versteckt war, konnte ich in Ruhe einschlafen.

Gehe in das Gefühl hinein, wenn du dir diese Sabotagen anschaust. Wie fühlt es sich an, die Sabotagen einzugestehen? Sei mit dem Gefühl, drücke es nicht weg, lasse es einfach zu. Es wird vielleicht erst etwas größer, beobachte es einfach und schaue, was damit passiert.

Betrachte es aus der Vogelperspektive und schaue, was passiert, wenn du diese Gefühle und Sabotagen zulässt und anerkennst. Sie wirklich SIEHST. Der Schritt zur Heilung dieser Wunden entsteht durch Akzeptanz.

Je länger und je öfter du diese Übung machst, desto schneller wirst du folgendes Muster erkennen: Das Gefühl wird größer, vielleicht wird es so stark, dass du weinen musst. Das ist in Ordnung. Nach einer Zeit, die von Person zu Person und von Thema zu Thema variiert, wird dieses Gefühl wieder kleiner. Du kannst es beobachten, du fühlst, dass du durch das emotionale Tal durchgegangen bist und du schließt innerlich mit deinem Anliegen Frieden.

Du kannst diese Übung verstärken, indem du ein kleines Ritual praktizierst, also z.B. alle Aspekte auf einen Zettel schreibst und diese verbrennst.

Schritt 3: Veränderung

Beginne langsam mit der Veränderung: Sei achtsam mit dir und deinen Bedürfnissen. Was willst DU wirklich? Was machst du vielleicht für andere, was dir selbst aber nicht guttut? Mache die Bedürfnisse nicht von anderen abhängig. Überlege dir, was DIR wichtig ist im Leben.

Dann schaue von Moment zu Moment, was du willst. Wenn du nicht weißt, was du willst, mache folgende Übung: Frage dich, was jetzt in diesem Moment jemand an deiner Stelle tun würde, der sich aus vollstem Herzen lieben würde? Oder: Was könnte die Situation gerade noch ein Stück besser machen? Meist kommt die Antwort ziemlich intuitiv.

Wenn du anfängliche Schwierigkeiten mit Selbstliebe und Akzeptanz hast, mache folgende Übungen: Projiziere, bevor du ein Getränk zu dir nimmst, all deine Liebe in das Gefäß und trinke Schluck für Schluck mit dem Bewusstsein, dass du dir gerade diese Liebe einverleibst.

Und erde dich regelmäßig: Laufe barfuß, wenn es deine Umgebung zulässt, checke öfter am Tag mit dir ein. Wie fühlst du dich? Was fühlst du? Was willst du? Sei achtsam mit dir.

Wenn du dich deiner Selbst zuwendest, also Selbstliebe betreibst, sei geduldig mit dir. Betrachte dich aus der Sicht einer liebenden Mutter. Radikale Selbstliebe kann man nicht einfach so von heute auf morgen praktikzieren. Alles braucht Zeit. Doch die Früchte werden reifen und irgendwann kannst du sie ernten.

Noch ein Schlusswort zur Selbstliebe

Selbstliebe und radikale Akzeptanz ist nicht zu verwechseln mit Egoismus oder gar Narzissmus. Eine gesunde Selbstliebe ist Voraussetzung für ein zufriedenes Leben. Wenn du dich selbst nicht liebst, kannst du auch andere nicht lieben. Stattdessen sind Beziehungen zu anderen geprägt von Eifersucht, Drama, Streit und Abhängigkeiten.

Egoismus oder Narzissmus sind keine Selbstliebe, sondern beinhalten ein starkes Gefühl des Mangels und der Angst, benachteiligt zu werden. Egoismus und Narzissmus entfernt den Menschen in Wirklichkeit eher von sich selbst. Selbstliebe verbindet.

Ich möchte heute mit einem Gedicht von Rilke abschließen:

Über die Geduld
Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen - und
dann gebären...
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit...
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.
Rilke

Danke, dass du dir Zeit für den Artikel genommen hast.

Alles Liebe <3

Über die Autorin

Radikale Selbstliebe: So bringst du deinen inneren Kritiker zum Schweigen

Alexandra Kuptz ist selbständige Psychologin. Sie versteht sich als Motivatorin und Glücksbeauftragte und begleitet Einzelpersonen und Gruppen auf ihrer Visions- und Sinnsuche mit einer gesunden Portion Witz und Achtsamkeit.

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