Quito

Charlotte goss zum zweiten mal ein. Er schimmerte bernsteinfarben. Die Sonne schmolz allmählich auf der Mauer. Ihre kleine Katze saß auf meine Schultern. Der Rum schmeckte deutlich besser als der Kolumbianische: Holzig, weicher. Mir wurde warm. Sie schluckte wieder in einem Zug. Dann zündetet sie sich noch eine an. Das Blau des Himmels wurde nur durch eine weiße ausflockende Narbe entstellt. „Meine Freunde sind alle Alkoholiker oder nehmen Drogen.“ Ich betrachte den schlecht gemalten Fliegenpilz auf ihrer Terrasse.

„Unsere Städte haben etwas verloren.“ Ich schloss meine Augen. Und sah Samuel. Ist das, was geschehen ist, wie es medial wiedergekäut sowie instrumentalisiert wird, nicht symptomatisch für unsere Gesellschaft? Wohlmöglich hat gerade ein junger – mutiger, leichtsinniger, dummer – Mensch sein Leben verspielt. Ich weiß nicht. Soll ich weinen? Oder lachen? Mit diesem Gedanken gehe ich durch die Straßen von Quito: Was würde der Obdachlose, der jeden Tag um das Überleben ringt, dazu sagen? Was die billigen dicken Huren hinter dem Kloster Santa Catalina? Und die Schuhputzer, die in einem Alter sind, in dem bei uns noch nicht gearbeitet werden darf? Und die, noch in grün-weiße Uniformen gekleideten, Mädchen auf der Av. Cristóbal Colón, die bei Rot Bonbons zu verkaufen versuchen? Und die alten Frauen, die Nippes und Süßes offerieren müssen, obwohl sie am Stock gehen und keine Zähne mehr im Mund haben. Und was ist mit den halbblinden Straßenmusikern, die stundenlang singen und Akkordeon spielen? Und die Drogendealer und Diebe, die sich nicht anders zu helfen wissen, als diese Sünden auf sich zu nehmen? Und was würde Jesus dazu sagen, wüsste er, wie die Menschen das Fest der Liebe missbrauchen? Die Erklärbarkeit jeglichen Verhaltens schafft moralische Dilemmata. Unsere Städte haben etwas verloren. Und einige von uns brechen. Kehren der Heimat den Rücken. Und stellen somit das Leben ihrer Ahnen in Frage, denn mit der Fortführung eines Lebensstils durch Nachfolger werden auch immer die Urheber des selbigen in ihrer Wahrhaftigkeit, Richtigkeit bestätigt. Nichts anderes versucht Tradition. Und das Brechen mit ihr ist selbst eine Tradition. Man muss dazu nur die Bücher von Hesse oder Steinbeck aufschlagen.

The fascists and their many guises
Anarchists and their fantasizing
It seems sometimes they’re sailing the same boat
Politicians mesmerizing throngs of automated souls
As some similar psycho’s screwing on the scope

I’m leaving town
To join sophisticates in my head
We’ll have our fun playing the hypocrite critic
And when all the creatures in their palaces are crushed
I can safely say „I’m coming home“

Fairy tales and fruitless fortunes
Acquired from some sad story teller
Can sometimes be enough to keep me mum in my keep
Organ grinders orating overtures of madness
As the heinous hipster’s spending his unearned currency

There may be many ways of reaching the same plateau
I’ll take the road less traveled
If it looks like it ain’t been sold
The chains around my neck won’t break
But at least they’re made of solid
(Swingin’ Utters)

„Was hast’n eigentlich aufm Daumen?“ – „Das … hahaha … ist’n Tattoo, Gott war ich besoffen … hab ich in Thailand gestochen, keine Erinnerung an diese Nacht, auf der Khao San Road, sollte … glaub ich, äh ‘ne Schlange werden, wie ich geheult hab am nächsten Tag … nein, nein, 30 Jahre alt war ich da und ich dachte, kein Job, kein Mann.“ – „Kein Hund, kein Bausparvertrag …“ – „Hehe … aber ein hässliches Scheiß-Tattoo auf der Hand, rumgeheult hab ich, so krieg’ ich nie … hahaha … ‘n Job in Frankreich.“

In der Kneipe warteten schon ihre Freunde. Wir mussten klingen um eingelassen zu werden. Sicherheitsvorkehrungen. Drinnen, Figuren wie in Onettis Romanen. Zu Pyramiden geschichtetes Fleisch. Ovale Gesichter mit hohen Stirnen. Glasige Augen, in denen Traurigkeit – vielleicht auch Frust – schwamm. Und alle rauchten, als müsste noch heute der Konkurs des Zigarettenherstellers abgewendet werden. Die Ältere ihre Freundinnen trug langes gewelltes schwarzes Haar. Die Jüngere hatte es geglättet. Sie zupfte immer wieder an ihrem Hemd, um die Fettpolster zu kaschieren. Ihre Stoffe waren golden, schwarz- und bronzefarben. Beide hatten bemalte Fingernägel, trugen Lippenstift, Zeige- und Mittelfinger waren gilb. Wir tranken Rum auf Eis. Der Barkeeper polierte Gläser. Dunst umwickelte unsere Worte. Erwürgte die Zeit. An der Wand hingen Straßenszenen aus Paris und Schallplatten-Cover. Charlotte ging auf Toilette. Der Barkeeper stellte gesalzene Popcorn hin. Als sie wieder kam, wirkten ihre Pupillen größer. Sie setzte meine Mütze auf. Wir tranken noch einen, zwei. Ein Freund von Charlotte lass Zeitung. Hinten saß ein altes amerikanisches Paar. Als die Frau betrunken war, tanzte sie. Sie bewegte sich wie meine Mutter.

Als wir nach Hause gingen, krochen die Wolken durch die Straßen. Hunde liefen vor Grundstücken frei herum. Sie bellten und kamen auf uns zu. Wir mussten Umwege machen. In manch parkenden Autos schliefen Männer. Vor vielen Gebäuden standen mit Ponchos bekleidete Männer mit Schlagstöcken. Der Parkplatz vom Supermarkt war ausgeleuchtet, umzäunt – ein Sicherheitsmann lugte aus seiner Kabine. Ich fühlte mich nicht sicher.

In der Küche zog sie noch Kokain. Sie wollte noch schreiben. Es kam aber ihr Freund. Sie stritten. Dann bummsten sie.


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