Wenn nun die konservative Presse und weite Teile der Union vom »Islam-Rabatt« sprechen oder erklären, es dürfe »keinen Rabatt für Täter geben, die sich auf religiöse Motive berufen« (Bosbach), dann sagen sie mit feineren Worten, was Pirinçci vor sich herstammelte. Nämlich: Soziologische Erkenntnisse sind Quatsch. Besondere Zwangssituationen, die sich aus einem Leben zwischen zwei Weltansichten und kulturellen Realitäten ergeben, sind nur das Geflunker von Erforschern des sozialen Verhaltens und daher auch Quatsch.
Dass es Wechselwirkungen und Kollisionen geben kann zwischen dem, was die islamische Sicht auf die Dinge und der Ideologie des Westens angeht, wird abgetan und nicht anerkannt. Man winkt ab und sagt »Quark«. »Wir sind eine Willkommenskultur. Wer will, der kann. Man muss doch nicht zerrissen sein.« Wenn das mal so einfach wäre. Das sind die Behauptungen von Leuten, die nichts von Kulturschocks wissen; das Blabla ignoranter Zeitgenossen, die die Welt bereist haben, sich aber überall gut angepasst haben. Dass die Welt aber grundlegend eurozentrisch oder westlich tickt, auch dort wo Europa und der Westen nicht ist, nehmen sie in ihre Wertung nicht mit auf.
Und es ist im übrigen ja auch nicht so, dass dieser populistisch stilisierte Begriff des »Islam-Rabatt« zu Strafbefreiung führt. Die Täter werden ja bestraft. Die Richter berücksichtigen nur, dass da jemand aus »zwei Welten« kommt und dass es Verwerfungen zwischen den kulturellen Realitäten geben kann. Das heißt nicht, dass man ihm zugesteht, dass er nicht zurechnungsfähig ist. Es heißt aber wohl, man sollte das Umfeld des Täters verstehen, um nachvollziehen zu können, ob es Aspekte gibt, die ihn entlasten. Jemanden, der aus Eifersucht seine Frau tötet, prüft man ja auch. Man will wissen, was genau die Eifersucht entfesselte und gesteht ihm zu, dass die Umstände ihn vielleicht tatsächlich überfordert und Frau mitsamt ihren Geliebten ihn durch Taktlosigkeit angestachelt haben. Deswegen wird er nicht freigesprochen. Man bezieht nur die Umstände mit ein.
Diese juristische Praxis basiert auf einem soziologischen Weltbild, in dem Täter nicht per se schlecht oder böse, sondern immer auch Produkt ihres Milieus, spezieller Lebenslagen oder Eindrücke sind. Deswegen sind sie noch lange keine Opfer. Aber eben auch keine Teufel. Es gehört zu einem aufgeklärten Weltbild, Täter nicht einfach in den Kerker zu sperren, sondern sie auch begreifen zu wollen. Nur so entwickelt sich Gesellschaft weiter und kann eventuell präventiv vorgegangen werden. Das klappt natürlich nicht immer.
Schon vor über einem Jahr schrieb ich von Buschkowsky, so wie er »sein« Neukölln beschrieb, als »Chronisten seines eigenen Versagens«. Ich kritisierte ihn dafür, dass er den Menschen aus Neukölln vorwarf, sie hätten größtenteils falsche Arbeits- und Moralvorstellungen. Aber in einem Milieu, das von der Politik über Jahre vernachlässigt wurde, gilt ganz besonders, »dass Dynamiken nicht frei wählbar entstehen, sondern durch gesellschaftliche Momente determiniert sind«. »Die Eigenverantwortlichkeits-Rhetorik der Marktradikalen«, schrieb ich außerdem, habe der »Soziologie [...] das Wasser abgegraben«.
Nicht umsonst nannte ich diesen Text damals im Untertitel »Das Scheitern der Soziologie«. Und genau unter diesem Motto läuft der neokonservative Rollback. Sie haben der Aufklärung den Krieg erklärt und machen die Soziologie, die sie als dezidiert politisch links verorten, zu einer Voodoo-Lehre, die man ganz schnell beenden sollte. »Gutmensch« oder »Islam-Rabatt« sind Kampfbegriffe zur Erlangung dieses Ziels. Sie beschwören ein längst überholtes Weltbild der gnadenlosen Härte, in dem nur der Kerker und Kettenhaft angemessene Antworten auf Verbrechen waren. Resozialisierung als Grundrecht lehnen sie ab. Als Gnadenakt können sie sich sie vorstellen - aber nur im besten Fall.
Sie haben so gesehen nicht nur ein gespaltenes Verhältnis zum Sozialstaat, sondern eben auch zur Soziologie und der Resozialisierung - zu allem, was das Soziale im Namen trägt. Also den »socius«, den Gefährten oder das Gesellschaftliche. Die Hölle, das sind für sie immer die anderen. Und Soziologie ist ja immer auch die Lehre von den anderen. Nur gehen sie mit dem Motto »Ich bin so, warum können die anderen nicht auch so sein wie ich?« an die Sache heran. Und genau so funktioniert die soziologische Betrachtung nicht.
Das erklärt, warum sie nicht auf andere zugehen können. Sie sind sich der eigene Maßstab. »Egomanie« könnte man das auch nennen. Und wie so ein islamischer Mörder fühlen sie sich eben gar nicht. Das ist so wie Buschkowsky »mein« Neukölln sagt, aber keine Ahnung hat, wie man sich als Hartz-IV-Empfänger oder Ausländer in Deutschland so fühlt. Und wer Gesellschaft so begreift, der begreift Gesellschaft nicht. Blöd nur, dass diese Leute Gesellschaft gestalten dürfen.
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