Puerto Madryn

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Heute liegt schon mehr goldenes Laub auf dem Gras. Es knistert so schön, wenn man darüber geht, und ich erinnere mich an einen Spaziergang im Schloss Charlottenburg, an ihre lachenden Augen. Auf der Wand im Innenhof wiegt der Schatten eines Nadelbaumes, auf seinem Zweig wiegt der Schatten eines rastlosen Vogels. Dann fällt er einen Zweig tiefer und zwei weitere Schatten flattern auf Windesflügeln auf das noch schaukelnde Geäst. Dann klingt das Zwitschern ab und ich schließe die Augen. Und wenn man dann, so, lange genug zur Sonne blickt, beginnt allmählich das Dunkel zu glimmen. So intensiv irgendwann, dass man die Augen aufmachen muss.

Schritt um Schritt – geschlossenem Auges – folge ich einer Linie im Kopf. Und mit jedem Schritt nähere ich mich dem Willen, die Augen endlich aufzumachen. Nur stehen bleiben gewährt Sicherheit. Aber ich gehe weiter, allmählich langsamer werdend, und je bedachtsamer mein Gang wird, desto mehr schlängele ich. Und unerschöpflich flüstert das Meer ins Ohr, bis ich schließlich wie eine Boje zu schaukeln beginne, mit den Armen rudere, und die Augen schließlich doch öffne. Am Ende der Bucht setze ich mich oberhalb jener Höhlen, die vor fast 150 Jahren Pioniere aus Wales gruben. Das Meer ist dunkelblau. Und da wo die Sonne durch die Wolken scheint, schimmert es weiß. Die Möwen kämpfen mit den Winden und zwei Nager knabbern im Gebüsch. Und am gegenüberliegenden Ufer angeln zwei Jungen. Ich soll sie erst später freudestrahlend und quacksalbernd nach Hause gehen sehen, auf der Uferpromenade, wo zwei Verkäufer im Schatten eines Baumes Schach spielen, obwohl sie eigentlich Halsketten, Ohrringe, handgeschnitze Skulpturen von Walen, Möwen und Robben sowie Lesezeichen verkaufen wollen.

Ich setzte mich gerade an den Tisch, schreiben wollend, als ich auf eine Runde Billard eingeladen wurde. Der Argentinier, Friedländer sein Name, eröffnete. Und in Anbetracht seiner Haltung, schloss ich die Augen, damit man nicht sehen konnte, dass ich mit ihnen rollte. Denn ich war nicht besser, und wir bräuchten schon eine gehörige Portion Glück, um überhaupt eine Kugel zu treffen – geschweige denn eine einzulochen. Ich äußerte meine Sorge mit den Worten, dass ich morgen schon ganz gerne weiter zöge. Dann war ich an der Reihe. Und der Queue erwies sich im weiteren Spielverlauf, in meinen Händen, als Schlagstock, der jegliche Gesichtsöffnungen meines Opponenten zu erforschen versuchte, und meine eigenen Kugeln in die grundsätzlich immer andere Richtung, als die Beabsichtigte stieß. Sogar mein Atem schien die Kugeln des Gegners in Wallung zu bringen und ständig stand ich da, wo ich nicht stehen sollte. Aber neben mir, war der einzige Gast der Herberge, das Nichts und Niemand. Unser Spiel war Zauberei, alles eine mysteriöse Verkettung von Zufällen. Aber irgendwie wollte er die Zeit totschlagen, denn erst am Montag hätte er sein Vorstellungsgespräch. Und ich war verdutzt, denn was bewegt einen Menschen, von einer Stadt wie Buenos Aires in eine Kleinstadt zu ziehen, die sich den Touristen anbiedert und von Aluminium lebt. Er möchte sein Leben verändern, verriet er. Denn in Buenos Aires müsste er viel arbeiten. Viel, wie jeder andere auch, denn in Argentinien sagt das Gesetz ›48 Stunden-Woche‹ – natürlich ohne Siesta, wie im Rest des Landes. Und überdies wuchs im alles über den Kopf: Zu groß und dynamisch, zu teuer sei die Stadt. Er war zweimal in Europa, einmal in Baden-Baden und in einmal Madrid, wo einige seiner Freunde heute leben, aber dauerhaft, so weit weg von Familie und Freunden – das kann er sich nicht vorstellen. Und dann sagte er, dass man dort immer Ausländer bleibt, irgendwie, auch wenn man Spanisch spricht. Denn die Spanier hätten Schwierigkeiten das Spanisch Lateinamerikas zu verstehen. Ich lochte eine Kugel mehr ein. Und verlor trotzdem.

Und am nächsten Tag, einem Sonntag, wollte ich endlich schreiben. Nein, eigentlich wollte ich per Anhalter weiter, aber ich schlief schlecht und war müde und hatte bislang ja nichts ›auf Papier gebracht‹ – ob Menschen zukünftiger Generationen diese Redewendung noch verstehen werden? Und außerdem war da eine Engländerin und der wollte ich imponieren. Also lud ich sie auf eine Runde Billard ein. Ich ließ ihr Vortritt. Sie stieß an und die erste Kugel, die ins Loch fiel, war die schwarze Kugel …

Nachmittags spazierte ich auf der Uferpromenade, die Einheimischen führten ihre Hunde aus, angelten, verkauften Eiscreme, Popcorn oder malten im Sand.

Friedländer stellte sich als durchtriebener schamloser Halunke raus. Er redete viel von ›ficken‹ – zugegeben bei seinem Zuhörer stieß das nicht unbedingt auf taube Ohren. Aber dennoch waren die Gespräche zwischendurch erquickend, ja sogar politischer Natur. Denn als er mir nach meinem Spaziergang, bei Kamillenblütentee und Keksen die Fotos seines Spazierganges zeigte, erwähnte er so ganz nebenbei, dass seine Kamera aus Rio Grande stamme. Ich fragte nach, denn Rio Grande liegt in Feuerland, jenem Ort, der so weit weg und nur umständlich zu erreichen ist. Und Friedländer erzählte, dass in Rio Grande die Elektro-Industrie bedeutend ist. Das hätte geo-politische Ursachen: Denn ›eine damalige‹ Regierung, die – bezüglich des Grenzverlaufes in Patagonien sowie Feuerland – im Clinch mit Chile war, beabsichtigte, Argumente zu schaffen, in dem sie eine wachsende Branche in eine Region verlagerte, die bislang nur Weideland, spärlich besiedelt und somit leicht ›angreifbar‹ war. Rio Grande prosperierte, zog immer mehr Menschen an und wurde ›unverrückbar‹ – denn was fällt einem nach Land hungerten Halunken leichter, als die Okkupation von ›Niemandsland‹. Aber schon seit seiner Umschiffung gilt der Beagle-Kanal in Feuerland als Politikum: Ushuaia – die südlichste Stadt der Welt – auf Argentinischer Seite, und Puerto Williams – die südlichste Gemeinde der Welt – auf Seiten Chiles sind Zeugnisse einst hegemonialer Ansprüche. Eine von Friedländer’s Bemerkungen überraschte mich: Er behauptete, dass die Einwohner dieser Region einen gravierenden Mangel an Vitaminen, die im Zusammenhang mit Temperatur und Sonnenlicht stehen, aufweisen. Folglich leben die Menschen dort ›ungesünder‹, kürzer und müssten häufiger zum Arzt. Ich fragte Friedländer noch was es mit der undefinierten Grenze im ›ewigen Eis‹ in der Region um den Fitz Roy auf sich hat. Denn soweit ich informiert bin, ist die Unklarheit der Grenze, die Konsequenz eines ›bis auf weiteres‹ verschobenen Dekretes. Friedländer verbesserte: ›Die Grenze ist nicht klar, richtig, aber nur, weil man damals bestimmt hat, dass der Scheitelpunkt des Wassers in dieser Gebirgskette die Grenze bildet. Da, von wo das Wasser in den Westen fließt, ist Chile. Und da, wo das Wasser in den Osten fließt, ist Argentinien.

Der Sonntag neigte sich dem Ende. Ich machte mir eine Gemüsepfanne mit Salami, schrieb Gedichte und ging – wie so gerne – im Dunklen spazieren.


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