Puddingfreunde
Wenn sich zwei junge Menschen kennen- und liebenlernen (was zweifellos eine famose Sache ist) und sich entscheiden (was noch famoser ist), den schönsten Tag ihres Lebens durch Herrn Grütter am Klavier umrahmen zu lassen, dann muss ich manchmal schreckliche Dinge tun – ich muss Sportfreunde Stiller spielen. Oder Titanic. Oder ähnliche Perlen der Kompositionskunst, die die Brautleute daran erinnern, wo sie ihre ersten gemeinsamen Spaghetti, ihren ersten gemeinsamen Urlaub oder ihr erstes gemeinsames Kind gemacht haben.
Naja, ich bin nicht arrogant. Ich spiele sehr gerne den letzten Mist, solange ich dafür bezahlt werde. Ich bin sogar der Auffassung, dass es sich trotzdem um gute Menschen handeln kann, auch wenn sie einen grausigen Musikgeschmack haben!
Ich stelle lediglich wert- und vorurteilsfrei fest, dass Sportfreunde Stiller oder Titanic, wenn man sie auf dem Klavier spielt, bescheuert klingen. Diese viertaktigen Wechsel von Tonika, Tonikaparallele, Subdominante und Dominante, verbunden mit random-artigen Melodielinien, die wahllos aus den (akkordeigenen oder akkordfremden) Tönen der diatonischen Skala zusammengewürfelt sind, klingen auf dem Klavier einfach total ununterscheidbar. Manchmal frage ich mich, ob das Brautpaar überhaupt erkennt, was ich da gerade spiele. Na, wahrscheinlich haben sie anderes im Kopf.
Bei Yesterday oder Girl from Ipanema passiert das nicht. Ich kann diese Stücke auch als Walzer spielen oder die Melodie ganz weglassen, und man erkennt sie trotzdem. Ihre Harmonik ist stark genug. Die genannten Hochzeits-Lieblingslieder hingegen sind auf das ganze Arrangement angewiesen. Ohne Melodie, ohne Text, mit anderem Rhythmus oder am Klavier gespielt haben sie keine Chance.
Ist das schlimm? Nicht zwangsläufig. Robustheit muss keineswegs das Ideal jedes Stücks sein. Bachs Klavierstücke kann man schräg orchestrieren oder als Jazz spielen – Schumanns nicht. Beide sind gute Komponisten. Auch Schönbergs „Farben“, Ligetis „Atmosphères“ oder Haasens „limited approximations“ kann man nicht am Klavier spielen. Trotzdem sind es gute und charakteristische Kompositionen.
Was unterscheidet Schumann oder Schönberg von Sportfreunde Stiller? Bei den beiden ersten ist jeweils einer der (im traditionellen Bach-Beethoven-Brahms-Verständnis „sekundären“) Parameter – bei Schumann der Klaviersatz, bei Schönberg die Klangfarbe – so stark ausgebaut, dass es das Stück zerstören würde, wenn man von ihm abstrahieren wollte. Die Träumerei für Bigband, „Farben“ für Cembalo – das wäre Quatsch.
Dass man hingegen bei Sportfreunde Stiller nicht von einzelnen Parametern abstrahieren kann, liegt ganz im Gegenteil daran, dass gar kein Parameter – weder Melodik, Harmonik und Rhythmus, noch Klangfarbe, Arrangement, Text oder Vortrag – stark ausgebaut ist. Alle Parameter sind gerade soweit (und kein bisschen mehr) entwickelt, dass sie im Verbund ein halbwegs anhörbares Stück ergeben. Nimmt man auch nur einen weg, rutscht das Stück unter die Wiedererkennungsschwelle.
Die Herstellung eines solchen Titels erinnert lebhaft an die Herstellung von Schokoladenpudding. Vor ein paar Wochen war das wieder mal in den Medien. Im Schokoladenpudding von Lidl ist 1% Kakaopulver – soviel ist gesetzlich vorgeschrieben. Der Fettanteil der Milch ist nahe null – Wassermilch nennt sich das. Von allen Zutaten wird gerade soviel hinzugefügt, dass im Verbund ein gerade noch genießbarer Pudding entsteht. Nimmt man auch nur ein Aroma weg, schmeckt das Ding nach A&F.
Gekauft wird es trotzdem. Ich kaufe es auch. Schließlich ist es viel billiger als der Gourmetpudding mit handgeraspelter Confiserie-Schokolade. Girl from Ipanema hingegen kostet keinen Cent mehr als Titanic. Weder im iTunes-Store noch bei Ihrem Pianisten Herrn Grütter. Hier kann man wohl annehmen, dass die Geschmacksnerven der Brautleute irreparabel zerstört sind…