„Relatives In Descent“
(Domino Records)
Ursprünglich war der Post-Punk ja mal angetreten, dem zunehmend schablonenhaften und uniformierten Punkrock, der fast zum modischen Accessoire verkommen war, die musikalischen Scheuklappen wegzureißen und ihn gleichzeitig wieder zu politisieren. Nun, betrachtet man sich die aktuellen Nachkommen des Subgenres, dann hat das musikalisch noch immer ganz gut geklappt, nur mit der Politik haben die meisten Bands nicht sonderlich viel am Hut. Insofern dürfen Protomartyr aus Detroit quasi als Musterschüler gelten. Denn stilistisch sind sie mit ihrem wandlungsfähigen Sound aus Noise, Garage, Punk und Anklängen beim Gothrock so breit wie kaum eine andere Band aufgestellt und zählen deshalb zu den interessantesten Vertretern der aktuellen Szene. Und auch mit ihrer politischen Meinung halten sie nicht hinterm Berg und grenzen sich damit deutlich vom verinnerlichten Wavepop und schwarzgewandeten Posertum vieler ihrer Nischenmitbewohner ab.
Es ist das vierte Album, das Joe Casey zusammen mit seinen drei Kollegen eingespielt hat und waren schon „Under The Colour Of Official Right“ und „The Agent Intellect“ überaus gelungene Platten, so setzen sie mit „Relatives In Descent“ noch einen drauf. Druckvoll, variabel, durchaus überraschend und mit klar verständlicher Message. Nach Hinweisen auf Wut und Enttäuschung muß man in den Stücken wahrlich nicht lange suchen, mehr oder weniger direkt geißelt Casey die gesellschaftliche Entwicklung seines Landes unter dem neuen Präsidenten, besonders die Art der Willens- und Meinungsbildung beunruhigt ihn, der fahrlässige Umgang mit Fakten und Wahrheiten ist sein Thema: “I used to think that truth was something that existed, that there were certain shared truths, like beauty,” sagte er kürzlich in einem Interview, “Now that’s being eroded. People have never been more skeptical, and there’s no shared reality. Maybe there never was.”
Die düster knirschenden Songs geben eine perfekte Kulisse ab für seine Klage über den Ausverkauf von Kultur und Wissenschaft, über die Verrohung des Umgangs miteinander und nicht zuletzt das Wiedererstarken weißer, männlicher Allmachtsfantasien. In “Male Plague” wird der Dummheit der Machos ein wilder, trotziger Marsch geblasen (“Everybody knows it, needs it, wants it, everybody knows it's gonna kill you some day”), “Up The Tower” leistet sich ein paar der wenigen Synthie-Einschübe, der wütende Imperativ des Textes als Fiktion über die Arroganz der Macht (“Knock it down! Throw him out”) endet in ohrenbetäubendem Gitarrenlärm. Die Einflüsse, die Casey für die Lyrics reklamiert, reichen vom Songwriting eines Ben Wallers über den irischen Schriftsteller Máirtín Ó Cadhain bis hin zu “Anatomie der Melancholie”, einem Werk des geistlichen Philosophen Robert Burton aus dem 17. Jahrhundert.
Die Spannweite von Inhalt und Form ist also groß, das Repertoire entsprechend: Der harte, schnelle und kantige Punkrock (“Male Plague”) gehört ebenso dazu wie die dunkel schimmernden, getragenen Melodien – “Night Blooming Cereus” gelingt der Band in erstaunlicher, trauriger Anmut (“In my own head, near the hole where hope drains out, and fear is branded deep amid the death of all things. Not under law or the thoughts I had before, only in darkness does the flower take hold, it blooms at night”). Am schönsten vereinen Protomartyr ihre vielen Talente in “The Chuckler”, die Welt geht den Bach runter und ist nicht mehr als ein schlechter Witz: “War, and rumors of war, clouds of poison in the sky and poison in the soil. Lord, how I wish there was a better ending to this joke. … I guess I'll keep on chuckling 'til there's no more breath in my lungs and it really doesn't matter at all, ha ha!” Es ist ein bitteres Lachen, das Caseys Alter Ego hier in den Sarkasmus flüchten läßt, nicht nur für ihn oftmals der einzige Weg, klarzukommen da draußen. Das Album, auch das ist fakt, kann ein übriges dazu tun. http://home.protomartyrband.com/
06.11. Berlin, Bi Nuu (w/ Metz)
08.11. Hamburg, Knust (w/ Metz)