Protokoll eines Sonntagnachmittags

Von Guidorohm

von Markus Michalek

Ich sitze nicht wie oft hinten rechts, sondern vorn, auf dem Beifahrersitz. Es ist eng, der Platz beschränkt, Jan beschwerte sich mehrmals darüber, dass seine Läuferknie schmerzten, ich stellte den Sitz zurück. Sie schmerzen immer, seit er aufgehört hat, auf Wettkämpfen zu laufen. Die Elektrotherapie hat bislang nicht geholfen. Vaters Hände liegen auf dem Lenkrad, in der drei-neun Position, die Knöchel seiner Arbeiterhände treten weiß hervor. Ich würde gern das Radio anschalten, aber ich weiß genau, dass es nur zu Streit führen wird. Wir stecken fest, die Räder haben sich tief in halbgefrorenen Schneematsch gefressen und die Heizung ist ausgefallen. Auf der Windschutzscheibe eine dicke Schicht trübes Kondenswasser, das langsam aber sicher einfrieren wird. Niemand sagt ein Wort.

Mittags noch war alles gut gewesen, der Jahreszeit entsprechend kalt, Eisblumen am Küchenfenster, aber die Sonne schien und als Vater am Tisch vorschlug, gemeinsam einen Ausflug zu machen, um danach Mutter zu besuchen, nickte Jan und ich sagte „warum nicht?“ Wir hatten drei Gänge gegessen, Brokkolisuppe von Jan, Nudeln mit Käsesauce von mir und Winteräpfel mit Zimt und Joghurt von Vater. Wir waren uns einig, dass das ein gutes Essen gewesen war. Ich wusch ab, Jan trocknete, Vater saß in seinem Zimmer, vielleicht las er, Musik war keine zu hören; vermutlich rauchte er wieder, er dachte, wenn er nur das Fenster offen ließe, dann würde sich niemand von uns daran stören, aber vielleicht war es ihm auch einfach nur egal.

„Wohin“, fragte er und Jan schlug den See vor, ich wollte lieber in die Stadt, in der Zeitung hatte ein Artikel von einer neuen Ausstellung gestanden und Vater war es egal. Also an den See, „die Natur wird uns gut tun, du wirst sehen“, sagte er zu mir, als ich widerwillig nachgab. Wir leben doch in der Natur, das Dorf besteht doch nur aus sechzig Häusern, aber ich schwieg. „Und danach zu Mutter“, sagte er und ließ den Wagen an. Ein guter Wagen, er hatte ihn erst letzten Herbst gekauft, die alte Kiste tauge doch zu nichts mehr, hatte er gesagt und gelacht. Jan war voller Begeisterung mit ihm die Bedienungsanleitung für die Elektronik durchgegangen; außer dem Navi-System gab es eine Telefondockingstation, eine Kamera, die das Rückwärtseinparken erleichtern sollte und zusätzlich noch einen Abstandsmesser. Sitzheizung, Klimaanlage und Radio natürlich auch.

„Mir wird kalt, warum steigen wir nicht aus?“, fragt Jan. Ja, warum eigentlich nicht. Ich würde gern mit meinem Finger kleine Figuren auf die beschlagene Windschutzscheibe malen, aber Vaters verschlossener Gesichtsaudruck und das Weiß seiner Knöchel halten mich davon ab. „Du musst deine Beine bewegen. Oder spann die Pobacken an, lass wieder locker, spann an, irgendwann wird dir schon warm“, sage ich. „Meine Knie tun weh“, „hör auf zu jammern“, sage ich. Vater schweigt.

Auf den Feldern lag matschiger, grauer Schnee, den ich sonst nur aus der Stadt kannte, es hatte zu tauen begonnen, überall tropfte es. „Wenn es kälter wird, friert alles wieder an“, sagte Vater und deutete auf das Eis, das den See bedeckte. An einigen Stellen war bereits das Wasser zu sehen. Auf einem Schild stand „betreten der Eisfläche auf eigene Gefahr“, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, eine derartige Eisfläche zu betreten. „Wenn es friert, könnten wir Schlittschuhlaufen gehen“ schlug ich vor. „Können wir“, sagte Vater. Wir haben uns auf den Weg gemacht, einmal um den See herum. Jeder von uns stieß kalte Luftschwaden aus, die Sonne verschwand gegen halb vier, da waren wir gerade einmal zur Hälfte um den See gekommen, Nebelschwaden lagerten auf dem Wasser. „Müssen wir wirklich noch zu Mutter“, fragte Jan. „Ja. Müssen wir. Das weißt du doch“, ich gab meinem vierzehn Jahre alten Bruder einen kleinen Klaps auf den Rücken. Er kreischte auf, rannte los, verschwand hinter einer Kurve. Jan war immer noch ein guter Läufer, wie früher, bis zu seiner Verletzung. Als wir die Kurve erreichten, war er nirgends zu sehen. „Der taucht schon wieder auf“, sagte Vater. Jan wartete zwei Kurven später, Schneebälle flogen uns um die Ohren, als wir näherkamen, schwere, matschige Schneebälle, die nicht zerpulverten, wenn sie uns trafen, sondern in kleinen Brocken auf den Boden platschten. Ich warf einige der größere Stücke zurück, aber im Gegensatz zu Jan traf ich nicht. Auf der Wiese Krähen, die aufflogen. Es war nach fünf, als wir den Wagen wieder erreichten, es dämmerte, bald würde es dunkel sein. „Fahr vorsichtig“, bat ich Vater, als er den Wagen Richtung Mutter lenkte. „Natürlich“ sagte er. Ich drehte mich halb zu Jan um, er hatte den Kopf ans Wagenfenster gelegt und sah in die anbrechende Dunkelheit hinaus. „Du erkältest dich“, sagte ich, „nimm den Kopf vom Fenster weg.“ Jan zog eine Schnute. „Mir ist aber nicht kalt“, sagte er. „Die Kälte kriecht dir über die Kopfhaut ins Hirn, du wirst schon sehen!“, ich wand mich wieder um. „Können wir Musik hören“, fragte Jan. „Wenn wir bei Mutter waren, ok?“, sagte Vater. Er fuhr schnell, aber sicher, hielt nur die rechte Hand am Lenkrad, die linke war auf die Innenseite der Wagentür abgestützt. Die Scheinwerfer schnitten ein warmes Lichtfeld in die Dämmerung. Als wir bei Mutter ankamen, war es vollständig dunkel.

Später kratzte Vater die Frontscheibe ab, Jan sagte, er wolle jetzt vorn sitzen, aber ich war schneller, war eingestiegen und hatte den Wagen von innen verriegelt. Jan stampfte mit dem Fuß auf. Vater musste die Fernbedienung benutzt haben, denn die Zentralverriegelung klackte laut, Jan riss die Tür auf und versuchte mich aus dem Sitz zu zerren. Mein kleiner Bruder legte eine erstaunliche Kraft an den Tag, aber ich war immer noch stärker, selbst, als er mich an meinen langen Haaren riss, blieb ich fest sitzen. Vater trennte uns kurz darauf. Jan solle hinten einsteigen, er könne beim nächsten Mal wieder vorn sitzen. „Machst du jetzt Musik an“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. Ihm sei nicht nach Musik sagte er. Immer, wenn wir bei Mutter gewesen waren, war ihm nach nichts. „Die Musik wird dir gut tun“, sagte ich. Vater blieb stur. Als wir losfuhren, fing Jan zu jammern an. Seine Knie schmerzten, ich solle meinen Sitz endlich weiter nach vorn stellen. Widerwillig gab ich nach. Vater drehte sich zu Jan um, „hör damit auf“, sagte er mehrmals, „hör endlich damit auf“, dann nahm er das Lenkrad fest in beide Hände, die neun-drei Position. „ich will nach Hause“, sagte Jan. „Wir fahren nach Hause“, sagte Vater. Es musste die vierte Kurve, vielleicht auch die fünfte Kurve der Abkürzung über den Feldweg gewesen sein, als er für einen Moment die Kontrolle über den Wagen verlor. Jan schrie, Vater schrie „Scheisse, festhalten“ und ich drückte meine Hände fest gegen das Handschuhfach. Ich glaube, wir haben uns zweimal um die eigenen Achse gedreht, ehe wir ein gutes Stück weit ins Feld schlitterten. Nach einigen Versuchen, aus dem Feld zu kommen, hatten wir uns eingegraben. „Die Hinterräder stecken etwa zwei Handbreit tief im Matsch“, sagte Vater als er wieder einstieg. Er ließ den Motor nochmals aufheulen, schlug zweimal mit der Faust aufs Lenkrad, fluchte; im selben Moment erstarb das Gebläse der Heizung. Es wurde kälter im Wagen und bald sammelte sich Kondenswasser an den Scheiben.

Hier drinnen ist es still geworden. Ob Jan eingeschlafen ist, weiß ich nicht. Ich wage es nicht, mich umzudrehen, oder auch nur meinen Kopf zur Seite zu drehen, um zu sehen, was Vater macht. Gemeinsam sind wir hier und doch jeder für sich. „Wollen wir nicht endlich nach Hause gehen“, sage ich schließlich, „Lassen wir den Wagen doch einfach hier.“ Vater räuspert sich, „gut“, sagt er schließlich und löst die verkrampften Finger. Jan ist als erster aus dem Wagen, danach Vater, als letztes ich. Es ist ein gutes Stück, das wir gehen müssen, aber ich glaube, wir schaffen es schon. Ich denke an Mutter. An ihre freundliche, aufmunternde Stimme, wie sie eine jede Mutter für ihre Kinder hat, selbst wenn sie wütend war, weil Jan und ich wieder stritten, lag noch ein Rest Freundlichkeit in ihrer Stimme. Kleine rote Grableuchten brannten dort bei ihr; lange hatten wir nebeneinander dagestanden. Jeder für sich und doch gemeinsam. Auf dem Weg zurück zum Wagen hatten unsere Schritte unnatürlich laut geknirscht, die Friedhofswege wurden gut gestreut.