25.03.2011Artikel zu Iran Hintergrund erstellt von Kai Ehlers
Der unten stehende Text erwähnt nicht die Situation im Iran. Wir veröffentlichen ihn aber wegen einer Kernaussage: "Soziale Verantwortung beginnt dort, wo der einzelne Mensch sich um seine eigenen Entwicklungsmöglichkeiten als Mensch sorgt." Im Iran stehen Menschen aufrecht vor einem übermächtigen Gegner. Das Regime im Iran duldet keine individuelle Entwicklung und versucht alle Menschen unter das Joch seiner Ideologie zu zwingen. Das Regime im Iran versus eine neue Phase von Entwicklungen.
Es ist eine beunruhigende Reihe: China hatten wir auf die Tagesordnung unseres vorletzten Treffens gesetzt – wir sahen uns veranlasst, uns mit den arabischen Ereignissen zu befassen. Arabien sollte auch weiterhin das Thema sein – da kam Japan dazu. Wie hängt das Eine mit dem anderen zusammen? Oder werden wir einfach nur durch zufällige Ereignisse gehetzt? Bevor wir Zeit und Kraft gefunden haben, das Eine wahrzunehmen, schon wieder getrieben, uns dem Nächsten zuzuwenden? Atemlos?
Wann gab es zuletzt eine solche Phase, in der sich die Ereignisse derart verdichteten? Die Wende ab 1986/87/88? Ja, mit der Auflösung der Sowjetunion als Höhepunkt, dem Ende der Systemteilung, der deutsch-deutschen Wiedervereinigung, der rasanten Osterweiterung von EU und NATO. Die Nachbeben spüren wir bis heute.
Jetzt haben die Schauplätze gewechselt. Europa liegt plötzlich, wie es scheint, am Rande des Weltgeschehens, das „uns“ zu überrollen scheint: China, Arabien, Japan. Was wird morgen dazukommen? Können wir es noch fassen, konkret, die Konflikte, die Not, das Leiden, strategisch, die Dimension der Veränderung? Oder werden wir wieder einmal erst Jahre nach den gegenwärtigen Ereignissen ansatzweise begreifen, was mit uns geschehen ist?
Die einen kämpfen um Teilhabe an den Errungenschaften der Moderne – Arabien, die anderen demonstrieren mit ihrer Not eben deren Hilflosigkeit. Eine Offenbarung der Grenzen unserer gegenwärtigen Ordnung liegt in beidem:
In Arabien kommt die nach-koloniale Ordnung einer immer noch in 1., 2. und 3.Welt klassifizierten „Globalisierung“ an die Grenze, in der sie in eine tatsächliche Öffnung der globalen Entwicklungsdynamik übergehen könnte. Die demografische Schrumpfung des Nordens und die explodierende Entwicklung des Südens gehen in den Prozess des Ausgleiches über; wohin dies führen wird, ist eine offene Frage. Die „entwickelte Welt“ zeigt sich verunsichert, gespalten, wie sie reagieren soll, wie sie reagieren kann. Die Zeiten, in denen die Massen der „unterentwickelten Länder“ Afrikas und Asiens von Autokraten und Despoten stellvertretend für den Westen ruhig gehalten werden konnten, scheinen vorbei. Soll man das politische Erwachen dieser Menschen stützen, fördern, nutzen – oder soll man es lieber einschränken und wenn, dann mit welchen Mitteln? Darüber spaltet sich der „Westen“. Die Angst ist groß, dass den bisherigen Hegemonen die Entwicklung aus dem Ruder läuft – zumal auch noch unklar ist, welche Rolle der Islam als Angebot einer anderen als der gegenwärtigen neo-liberalen Globalisierungs-Botschaft dabei spielen wird.
Und Japan? Japan offenbart die Grenzen der technischen Beherrschbarkeit von Natur und Welt – wieder einmal, muss man einschränkend sagen, denn schon frühere Havarien wie in Harrisburg, wie in Tschernobyl haben schon ausreichend belegt, dass diese Technik nicht beherrschbar ist. Endgültig, das wäre daher die den Vorgängen in Japan angemessenere Bewertung – und man muss sich dafür einsetzen, dass sie greift. Aber es stellt sich angesichts der Stellungnahmen, die sich für den weiteren Bau von Atomanlagen aussprechen, schon die Frage, wie viele solcher Offenbarungen es noch geben muss, bevor wir als Menschheit in der Lage sind, daraus Schlussfolgerungen für unsere Lebensweise zu ziehen. Das gilt für jeden einzelnen Menschen ebenso wie für die Völker, Gesellschaften und Staaten, die heute den Globus bewohnen.
Die soziale Verantwortung, das war der Gedanke, der bei diesem Stand des Gespräches hier ins Zentrum trat; sie beginnt dort, wo der einzelne Mensch sich um seine eigenen Entwicklungsmöglichkeiten als Mensch sorgt. Eine eigene, freie, lebensbejahende Entwicklung ist für den Einzelnen nur möglich, wo er oder sie sich dafür einsetzt, dass auch andere Menschen diese Möglichkeiten haben. Diesen Grundgedanken muss ich hier nicht weiter ausbreiten. Er ist klar. Offen ist aber die Frage, ob wir heute so weit sind, diese uralte Erkenntnis zu praktizieren, bzw. genauer, ob die sich häufenden Grenzerfahrungen, die in immer schnelleren Abständen auftretenden Offenbarungen uns dazu führen, diese Erkenntnis praktisch werden zu lassen – ohne uns dabei als ungläubig, gottlos, dogmatisch oder unaufgeklärt zu beschimpfen und uns gegenseitig unter Zwang, Druck oder auch direkte Gewaltanwendung zu setzen. Es geht doch vielmehr, so kristallisierte es sich im weiteren Gespräch heraus, um eine doppelte Bewegung, zum einen darum, dass der einzelne Mensch (westlicher Prägung) auf der Basis seiner Selbstbestimmung seine Verantwortlichkeit gegenüber der Gesamtheit der mit ihm lebenden Menschen, der Erde, des Kosmos erneuert, sie auf neuem Niveau entwickelt. Die andere Bewegung, die vornehmlich aus dem muslimischen und genereller nicht-christlichen Kulturraum heranwächst, kommt dem Individualismus spiegelbildlich entgegen. Bei ihr geht es darum, aus der ethischen, aus der gemeinschaftlich, aus der sozial-religiös und ganzheitlich-kosmisch erlebten Eingebundenheit, aus Glaubensgemeinschaften heraus die Verantwortung für eine eigene, eine individuelle Tat in dieser gemeinsamen Welt zu erkennen und praktisch zu entwickeln. Nur in der Wechselwirkung dieser beiden Pole, die man auch als Ost-West-Pole beschreiben könnte, ohne damit Festlegungen treffen zu wollen, wird das Bewusstsein entstehen, das wir heute brauchen, um nicht nur zu überleben, sondern in eine neue Phase unserer Entwicklung hineinzugehen.
Auszug aus dem Protokoll, das hier in ganzer Länge vorliegt.
Dank an Kai Ehlers, Journalist, Russland-Spezialist. www.kai-ehlers.de/forum-integrierte-gesellschaft
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