Es herrscht Bürgerkrieg in der Türkei. Staat gegen Bürger. Ein verzweifelter Hilferuf aus der Türkei
Bild: scharf-links.de | Montage-HF
Mit beispielloser Brutalität hat eine unfähige Polizeibehörde einen kleinen, friedlichen Protest in ein landesweites Aufbegehren verwandelt. Die türkische Bloggerin Tarihinde Yayunlandi hat eine Bestandsaufnahme der Grausamkeiten ins Netz gestellt, um die Welt darüber in Kenntnis zu setzen, was tatsächlich auf den Straßen Ankaras und Istambuls vor sich geht. Demonstranten, die der Polizei Essen anboten, wurden von dieser unter Panzerketten zerquetscht. Erinnerungen werden wach an das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens (Tian’anmen- Massaker 1998). Die Propaganda- Presse berichtet derweil über die komischste Katze der Welt.
Von Tarihinde Yayunlandi, übersetzt von Hermann Ploppa
2.6.2013
An meine Freunde, die außerhalb der Türkei wohnen:
Ich schreibe Euch, damit Ihr wisst, was sich in den letzten fünf Tagen in Istanbul ereignet hat. Ich muss das leider selber machen, weil die meisten Medienquellen von der Regierung zensiert sind und stattdessen die Mundpropaganda und das Internet die einzigen Wege geblieben sind, um unsere Situation zu erklären und um Hilfe und Unterstützung zu bitten.
Am Mittwoch, dem 29. Mai 2013, versammelte sich eine Gruppe von Leuten, von denen die meisten zu keiner besonderen Gruppe oder Ideologie gehörten, in Istanbuls Gezi Park. Unter ihnen waren viele meiner Freunde und Studenten. Ihr Beweggrund war einfach: Sie wollten verhindern und ihren Protest gegen die geplante Zerstörung des Gezi-Parks ausdrücken, wo ein weiteres Einkaufszentrum im innersten Zentrum der Großstadt errichtet werden soll. Dabei gibt es doch schon unzählige Einkaufszentren – zumindest eines in jedem Wohnviertel! Das Fällen der Bäume war angesetzt für Donnerstag Morgen. Die Leute gingen mit ihren Decken, Büchern und Kindern in den Park. Sie errichteten ihre Zelte und verbrachten die Nacht unter diesen Bäumen. Früh am nächsten Morgen, als die Bulldozer kamen, um die hundert Jahre alten Bäume mit ihren Wurzeln aus dem Boden zu zerren, standen die Leute gegen sie auf, um die Aktion zu verhindern.
Sie taten nichts anderes, als sich vor die Maschinen zu stellen.
Keine Zeitung, kein Fernsehkanal war anwesend, um von dem Protest zu berichten. Es handelte sich um eine vollständige Medienzensur. Jedoch die Polizei erschien mit Wasserwerfern und Pfefferspray. Sie jagten die Leute aus dem Park.
Am Abend hatte sich die Anzahl der Protestierenden vervielfacht. Das traf ebenfalls auf die Anzahl der Polizeikräfte rund um den Park zu. Während dessen hatte die Kommunalverwaltung von Istanbul alle Straßen zum Taksim-Platz verriegelt, an den der Gezi Park angrenzt. Die U-Bahn wurde stillgelegt, Fähren fuhren nicht mehr über den Bosporus und Straßen wurden blockiert.
Nun jedoch machten sich immer mehr Leute zu Fuß ins Stadtzentrum auf. Sie kamen von überall her in Istanbul. Sie hatten ganz unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Weltanschauungen und unterschiedliche Religionen. Sie versammelten sich mittlerweile, um die Zerstörung von etwas Bedeutenderem als diesen Park zu verhindern:
Nämlich das Recht, als ehrbare Bürger dieses Landes zu leben.
Sie versammelten sich und sie marschierten. Die Polizei verfolgte sie mit Pfefferspray und Tränengas und rollte mit Panzern über Menschen, die den Polizisten Essen anboten. Zwei junge Leute wurden von Panzern überrollt und starben. Eine andere junge Frau, eine Bekannte von mir, wurde am Kopf getroffen von einem der geworfenen Tränengaskanister. Die Polizei schoss sie geradewegs in die Menge. Nach einer dreistündigen Operation befindet sie sich immer noch in der Intensivstation. Ihre Situation ist kritisch. Während ich das schreibe, wissen wir nicht, ob sie überleben wird. Dieser Blog ist ihr gewidmet.
Diese Leute sind meine Freunde. Sie sind meine Studenten, meine Verwandten. Sie haben keine „verborgene Agenda“, wie die Staatsorgane zu sagen pflegen. Ihre Agenda ist völlig offen. Sie ist völlig klar. Das ganze Land ist von der Regierung an Konzerne verkauft worden – um Einkaufszentren, Luxusmeilen, Autobahnen, Dämme und Atomkraftwerke zu bauen. Die Regierung sucht – und wird ihn bei Bedarf schaffen – jeden Vorwand, um Syrien gegen den Willen des türkischen Volkes anzugreifen.
Vor allen Dingen aber ist die Kontrolle der Regierung über das Privatleben ihrer Bevölkerung in letzter Zeit einfach unerträglich geworden. Der Staat verabschiedete im Rahmen seiner konservativen Agenda viele Gesetze und Regulierungen bezüglich Abtreibung, Kaiserschmitt, Verkauf und Konsum von Alkohol, und sogar bezüglich der Farbe der Lippenstifte von Stewardessen in Flugzeugen.
Die Leute, die auf den Stadtkern von Istanbul marschieren, fordern ihr Recht ein, frei zu leben und Rechtsstaatlichkeit, Schutz und Achtung vom Staat zu erhalten. Sie verlangen, in die Entscheidungsprozesse über die Stadt einbezogen zu werden, in der sie leben.
Was sie stattdessen bekamen, ist ausufernde Gewalt und außerordentliche Mengen von Tränengas, das geradewegs in ihre Gesichter gefeuert wurde. Drei Leute verloren ihr Augenlicht.
Aber die Leute marschieren immer noch. Hunderttausende gesellen sich zu ihnen. Mehrere tausend Menschen überquerten die Bosporus-Brücke zu Fuß, um die Leute von Taksim zu unterstützen.
Keine Zeitung und kein Fernsehsender war vor Ort, um über die Ereignisse zu berichten. Sie waren voll damit beschäftigt, über die Wahl von Miss Türkei und der „seltsamsten Katze der Welt“ zu berichten.
Und immer noch verfolgte die Polizei die Leute und versprühte Pfefferspray in einem solchen Ausmaß, dass streunende Hunde und Katzen vergiftet wurden und davon starben.
Schulen, Krankenhäuser und sogar Fünf-Sterne-Hotels rund um den Taksim Platz öffneten ihre Tore für die Verletzten. Ärzte füllten Klassenzimmer und Hotelräume, um erste Hilfe zu leisten. Einige Polizeibeamte weigerten sich, wehrlose Menschen mit Tränengas zu beschießen und kündigten ihren Job. Rund um den Taksim Platz wurde die Internetverbindung gekappt. Jedoch stellten Anwohner und Geschäfte in der Gegend freie Internetverbindungen für die Leute auf den Straßen zur Verfügung. Restaurants stellten kostenlos Essen und Wasser zur Verfügung. Bewohner von Ankara und Izmir versammelten sich auf den Straßen, um den Widerstand in Istanbul zu unterstützen.
Während dessen zeigten die Mainstream-Medien weiterhin Miss Türkei und die „seltsamste Katze der Welt“.
Ich schreibe diesen Brief, damit Ihr wisst, was wirklich in Istanbul vorgeht. Die Massenmedien werden uns nichts Dergleichen berichten. Zumindest in meinem Land [der Türkei] nicht. Bitte postet so viele Artikel im Internet, wie Ihr finden könnt und verbreitet die Wahrheit.
Als ich letzte Nacht Artikel auf meine Facebookseite stellte, die die Ereignisse in Istanbul erklären sollten, stellte mir jemand folgende Frage:
„Was versprichst Du Dir davon, dass Du Dich bei Ausländern über Dein Land beschwerst?“
Dieser Blog ist meine Antwort an sie.
Indem ich mich über mein Land beschwere, hoffe ich folgendes zu gewinnen:
Rede- und Ausdrucksfreiheit,
Achtung der Menschenrechte,
Mitbestimmung über Entscheidungen, die meinen Körper betreffen und das Recht, mich in jedem Teil meiner Stadt versammeln zu dürfen, ohne gleich als Terrorist bezeichnet zu werden.
Aber vor allem, meine lieben Freunde in anderen Teilen der Welt [als der Türkei]: Indem ich mich an Euch wende, erhoffe ich mir Eure Aufmerksamkeit, Eure Unterstützung und Hilfe!
Bitte verbreitet diese Nachricht und teilt meinen Blog.
Danke!
http://defnesumanblogs.com/2013/06/01/istanbul-uzaktan-muhtesem-gorunuyor/
Übersetzung ins Deutsche: Hermann Ploppa
Quelle:
mit freundlichem Dank an