Von Stefan Sasse
Die Reaktionen der Staatsgewalt auf die Proteste gegen S21 haben gestern eine Dimension erreicht, die bis vor kurzem noch kaum möglich schien. Von der praktischen Sperrung der gesamten Innenstadt hab ich nur indirekt etwas mitbekommen, weil ich in weiser Voraussicht außen rum fahren wollte - nach zweieinhalb Stunden für 40km Strecke über Bundesstraße und Autobahn und der Erkenntnis, dass andere die gleiche kluge Idee hatten, und Staus die sich weit über das Ende des Feierabendverkehrs hinzogen war eigentlich klar, dass in Stuttgart selbst die Hölle los sein musste. Und wenn man den Berichten Glauben schenken darf - was für mich eigentlich außer Frage steht - war es das auch. Fefe hat eine recht gute Sammlung an Links und Beiträgen zum Thema zusammengetragen, die ich unter dem Beitrag verlinkt habe.
Noch einmal in Kurzform: gestern demonstrierten wieder die "üblichen Verdächtigen", ergänzt durch eine seit Monaten angemeldete Schülerdemo, gegen das Fällen teils hundert Jahre alter Platanen im Schlossgarten. Die Gegner des Projekts waren davon ausgegangen, dass diese Fällungen frühestens heute beginnen würden, weil man vorher einer Genehmigung bedurft hätte. Offensichtlich hatten sich die S21-Jungs die aber in aller Stille besorgt. Das Protest-Netzwerk griff aber, und so fanden sich im Schlossgarten bald die Demonstranten ein, während die Polizei versuchte, ein 1000-Quadratmeter-Areal abzusperren (das berichtete zumindest der lokale Rundfunk gegen 16 Uhr nachmittags). Die Sache eskalierte dann gegen Abend, als die Polizei begann, offensichtlich unprovoziert gezielt Pfefferspray, Wasserwerfer und Schläge gegen die Demonstranten einzusetzen. Die Bilanz: über 1000 Verletzte, darunter viele Kinder und Alte, teilweise richtig schwere Verletzungen und wie es scheint kein Baum gefällt. Die überlastete Polizei musste Einsatzbrigaden aus anderen Bundesländern heranziehen; bei Fefe wird wiederholt die Vermutung geäußert, dass es sich dabei um "prügelerfahrene" Brigaden etwa aus Hamburg und Berlin handelt.
Was aber ist die Konsequenz dieser Eskalation, die man so wohl keinesfalls erwartet hätte? Regierung und Polizei tun, was sie in solchen Fällen immer tun: sie erklären, die Demonstranten hätten angefangen, dieses Mal mit Steinewerfen (eine Meldung, die sie nach Sendung der Nachricht in der Tagesschau dementierten) und dass der Einsatz der Polizei "gezielt" und "verhältnismäßig" gewesen sei. Dass er das nicht wahr, geht jedem auf, der auch nur einen kurzen Blick auf die Bilder und die Berichte wirft; selbst das nicht gerade unter Sponti-Verdacht stehende Schmierblatt Spiegel ist fassunglos. Wer jemals eine größere Demo besucht hat, wird von all diesen Berichten weniger entsetzt sein: es ist business as usual; Schläge und Gewalteinsatz der Polizei sind eigentlich jedes Mal dabei. Ich kann mich noch gut an die Studiengebührenproteste 2006 in Stuttgart erinnern, da war es genau das gleiche, sieht man mal von den Wasserwerfern und dem Pfefferspray ab (dafür sind berittene Polizisten in die Menge galoppiert).
Doch S21 ist anders. Hier sind die Proteste - bislang - nicht vom Schwarzen Block mit vereinnahmt, garantiert gibt es nicht die AntiFa Bilder von gefährlichen Punks, die ihre Passion in Schlägereien mit der Polizei sehen. Was hier protestiert, ist das saturierte Bürgertum. Keine Punks, keine Glatzen, keine Dauerstudenten, keine heruntergekommenen Hartzis - die ganze Latte der Gruppen, mit deren plakativer Zurschaustellung man normalerweise eben die von jeder Besorgnis über das Vorgehen der Polizei und die Berechtigung des Anliegens fernhalten kann, die nun selbst im Fokus stehen. Diese Menschen demonstrieren normalerweise nicht. Dass sie es jetzt so ausdauernd tun, ist ein Ereignis, das glaube ich von keiner Seite wirklich verstanden wird.
Fefe ist schon recht nahe dran wenn er erklärt, dass die Kinder, die hier von Wasserwerfern von der Straße gespritzt werden genausowenig Begeisterung für die CDU zeigen werden wie die Rentner, denen die Polizisten ins Gesicht schlagen oder die mittleren Angestellten, die sich inmitten dieses Hexenkessels befinden. Ich würde allerdings widersprechen, diese plötzliche Erkenntnis der hässlichen Fratze des Staatsmacht, die in vergleichbaren Fällen von genau diesen Leuten immer mit Genugtuung aufgefasst wurde, wenn es gegen die oben genannten Gruppen ging, allein als gegen die Regierungsparteien gerichtet zu erkennen. Mindestens die SPD sitzt mit im Boot, denn sie hat über zwei Jahrzehnte lang das Projekt genauso unterstützt und tut das eigentlich auch jetzt noch, wenn man mal von dem Volksentscheid-Eiertanz absieht. Sie hat nur das Glück, die Polizei nicht selbst rausschicken zu müssen und kann sich glücklich schätzen, wenn sie weiter so unsichtbar bleibt wie bisher.
Doch selbst die Grünen kommen nicht ganz ungeschoren davon. Denn ja, sie sind Gegner des Projekts von Anfang an, aber sie gehören genauso zu "den Politikern", die hier oftmals pauschal angegriffen werden. Ich fürchte, dass dieses brutale Aufwecken breiter Teile der Bevölkerung sich zu Lasten gegen das gesamte System richten wird. Das ohnehin immer latent vorhandene Gefühl, "die da oben machen eh was sie wollen" wird durch die Proteste nur verschärft werden. Selbst wenn die Grünen, von denen einige vielleicht die Morgenluft der Proteste der 1980er Jahre wittern, am Ende im März bei den Landtagswahlen so sehr profitieren, wie das die Umfragen suggerieren, wird das nur zu einer von zwei möglichen Optionen führen: keine der anderen Parteien findet sich bereit, von dem unter ihnen vorhandenen S21-Konsens abzurücken, weswegen es zur schwarz-roten Koalition kommt und die Grünen einfach eine große Oppositionspartei sind, oder aber es wird eine rot-grüne Regierung gebildet, die dann S21 auch nicht stoppt - und die Grünen stehen dann wie der Kaiser ohne ihre neuen Kleider da, was die Frustration nicht gerade besänftigen dürfte.
In den Protesten gegen S21 manifestiert sich deswegen ein Potential, das sich in tiefeingefressenen Frust verwandeln kann, der gegen das gesamte System per se gerichtet ist. Die gute Seite dieser Entwicklung ist, dass die Chance besteht, dass diese Menschen eine allgemein größere Sensibilität gegenüber Polizeigewalt entwickeln und es vielleicht endlich zu einigen überfälligen Reformen wie etwa Namensschildern (in einem der Prügelvideos sieht man wieder einmal Leute versuchen, den Namen eines Prügelpolizisten zu erfahren) oder einigen neuen Polzeirichtlinien kommt, aber ich sehe die Gefahren der Entwicklung derzeit als größer an.Die Proteste werden erfolglos bleiben, die Regierung damit davon kommen, und entweder die frustrierte Wahlenthaltung zunehmen und das jetztige Trauerbild institutionalisiert oder aber irgendwelche Randparteien gestärkt werden. Dass sich daraus eine partizipative Bürgerbewegung entwickelt halte ich für unwahrscheinlich.
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