Was ist das Gemeinsame der aktuellen weltweiten Protestbewegungen? Und weshalb beginnen sie immer deutlicher zusammenzuklingen – wie eine Art globale Musik? In seinem Vortrag zeigt Stéphane M. Grueso – Dokumentarfilmer und Aktivist der Protestbewegung 15-M in Spanien – die Gemeinsamkeiten der aktuellen Protestbewegungen auf und verdeutlicht, was für Chancen sich daraus ergeben.
Im Jahr 2011 erlebten wir weltweit eine ganze Reihe von Protestbewegungen in Ländern unterschiedlichster politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse. Es begann in Nordafrika – Tunesien und Ägypten –, setzte sich fort in Griechenland und Spanien sowie später mit den Occupy-Bewegungen in den Vereinigten Staaten.
Gerne würde ich euch meine Theorie dazu darlegen: In diesem letzten Jahr hat sich ein neuer Prototyp des Protestes entwickelt. Wir sind daran, neue Formen des Protestes zu erlernen.
Um diese meine Idee deutlich zu machen, werde ich mich auf die Bewegungen konzentrieren, die in folgenden drei Ländern entstanden sind:
- Die Revolution in Ägypten vom Januar 2011,
- die sogenannte Bewegung 15-M vom Mai,
- die Bewegung Occupy Wall Street, die im September in den USA entstand.
Die Bewegung 15-M habe ich selbst aus aller Nähe miterlebt, habe ich doch in Madrid aktiv daran teilgenommen. Über die beiden anderen Länder habe ich viel gelesen und so die Bewegungen aufmerksam mitverfolgt.
Ich werde eine Reihe gemeinsamer Aspekte der Revolten in diesen drei Ländern aufzeigen und dazu auch Beispiele anfügen. Ich werde sprechen
- vom Platz, dem Ort, wo die Revolten stattgefunden haben,
- von der Inklusivität, der Horizontalität und der Gewaltlosigkeit als wesentliche Merkmale der Bewegungen,
- vom Gebrauch der Kommunikations- und Informationstechnologien als Katalysatoren der Proteste,
- vom Copyleft, der Art und Weise wie wir unsere Erfahrungen teilen.
Der Platz
Das erste gemeinsame Element ist zweifellos der Ort, wo all diese Proteste stattgefunden haben: der Platz. Man musste die Strasse erobern, im Zentrum der Städte sichtbar werden. Alle Bewegungen haben zentrale Plätze in den Städten ausgesucht, um sich zu versammeln, um stark und sichtbar zu werden.
In Ägypten fand die Mobilisierung auf dem zentralen Tahrir-Platz statt, in Madrid auf der Puerta del Sol, dem Platz, der für das geografische Zentrum Spaniens steht und von Zentren der Macht umgeben ist, zum Beispiel vom Präsidentenamt der autonomen Gemeinde Madrid. In New York wurde der Zuccotti-Park ausgesucht, und zwar seinerseits wegen der Nähe zu den grossen Zentren der Macht, in diesem Falle der Finanzindustrie in Manhattan.
Diese Plätze waren das neuralgische Zentrum der Mobilisierung, und hier entwickelten sich praktisch alle Aktivitäten, die sodann auf andere Orte ausstrahlten. Und diese Plätze wurden geräumt oder die Protestcamps zu einem gewissen Zeitpunkt aufgegeben.
Inklusivität
Ein weiteres gemeinsames Merkmal dieser drei Bewegungen ist die Inklusivität, ihr nicht ausgrenzende Charakter. Alle können Teil der Bewegung sein. Dies gilt für Kairo ebenso wie für Madrid und New York. Die Bewegungen zeichneten sich dadurch aus, dass völlig horizontale und integrierende Strukturen entstanden sind. Wir sind durch eine bestimmte Situation und den Wunsch nach einer Veränderung vereint, nicht durch eine Ideologie. Man kann jederzeit an der Bewegung teilnehmen, ohne sich einer Ideologie zu unterwerfen, ohne zu einer bestimmten Gruppe zu gehören. Es besteht keine offizielle Mitgliedschaft. An den Protesten haben deshalb viele Menschen ohne einschlägige Erfahrungen teilgenommen.
In Ägypten sahen wir, wie die Frauen auf dem Tahrir-Platz willkommen waren. Man liess sie teilnehmen und Verantwortung übernehmen. Auch sah man Junge, die mit Älteren zusammenarbeiteten. Ebenso protestierten koptische Christen und Moslems gemeinsam. Es entstanden positive und gleichberechtigte Verbindungen zwischen all diesen Gruppen, die schon immer zusammengelebt, sich aber bis jetzt noch nie durchmischt haben.
Ebenso auffällig ist, dass die Bewegung 15-M in Spanien zu einer Mobilisierung von Einzelpersonen und nicht so sehr von Gruppen führte. Alle sind willkommen, und wir wollen keine Fahnen. Auf dem Acampadasol – so nannten wir den besetzten Platz – gab es keine einzige Fahne und auch keine Parolen irgendwelcher Gruppierungen. Die einzige Fahne, die man zuweilen sah, war die ägyptische. Selbst die Leute von Democracia Real Ya! – die zur Kundgebung vom 15. Mai aufgerufen hatten, was die Initialzündung für die Bewegung war – traten schon am 16. Mai nur noch «im eigenen Namen» in Erscheinung.
In den ersten Tagen von Occupy Wall Street stellte das Zeltlager ein Gemisch von unterschiedlichen Aktivistengruppen dar. Doch schon wenige Tage später wurde die Parole «Wir sind die 99%» mit der Absicht ausgegeben, den Raum für alle zu öffnen. Die Vereinigten Staaten sind ein Land, das wie kaum ein anderes den Individualismus verkörpert und ein starkes traditionelles aktivistisches Erbe besitzt. Diese Öffnung für alle war deshalb eine neue, fremdartige Erfahrung. Im Zuccotti-Park sprach man vom «Wunder, zusammen zu sein».
Die drei Plätze öffneten sich zu Räumen der Gastfreundschaft. Es ging darum, gemeinsam zu denken – nicht im Sinne von «ich habe die Lösung, lass dich von mir überzeugen», sondern im Sinne von «sei willkommen und lass uns gemeinsam nachdenken».
Horizontalität
Neben der Inklusivität und demselben Wunsch verpflichtet, alle zu erreichen und niemanden auszugrenzen, bestand ein weiteres grundlegendes Merkmal der Bewegungen in ihrer Horizontalität.
Unterschiedliche Arbeitsweisen, Diskussionsformen und Prozesse der kollektiven Entscheidfindung wurden entwickelt. In Spanien organisierten wir uns in Vollversammlungen und verschiedenen Arbeitsgruppen. Dieselben Strukturen entstanden in den Vereinigten Staaten. Auch verzichtete man darauf, Führer zu ernennen. Natürlich gab es Sprecher der Bewegung. Doch man wollte keinen sichtbaren Kopf haben und die ausgeprägt horizontalen Strukturen aufrecht erhalten.
Noch heute kennt man keine Namen von ägyptischen Führern auf dem Tahrir-Platz. Und in den Vereinigten Staaten gibt es zwar einige hervorstechende Persönlichkeiten, aber keine eigentlichen Führer. In Spanien sagen wir in Gesprächen immer wieder: «Ich bin von 15-M, aber ich repräsentiere niemanden.» Es ist wirklich bezeichnend, dass es fast ein Jahr nach dem Beginn und einer noch immer aktiven Bewegung 15-M keinen einzigen Führer gibt.
Wie bereits erwähnt, gab es in den Vereinigten Staaten bei der Organisation der Protestcamps eine grössere Anzahl von traditionellen Aktivisten, zumindest am Anfang. Doch in Spanien waren solche Aktivisten in keiner Weise die Avantgarde. Sie lieferten die Werkzeuge und das Know-how und zogen sich wieder zurück. Sie fungierten als Ermöglicher.
Als letztes möchte ich erwähnen, dass Inklusivität und Horizontalität bis ins Sprachliche hinein gesucht wurden. Man ging sehr sorgfältig mit der Sprache um. Man erfand unterschiedliche Namen, um das Gemeinsame zum Ausdruck zu bringen. In Ägypten wurden die Manifeste mit «die Leute vom Tahrir-Platz» unterzeichnet. In Spanien waren wir die «Indignados» (Empörten), und in den Vereinigten Staaten waren es die «99%». Nirgendwo gab es sonstige Namen oder Abkürzungen.
Gewaltlosigkeit
Ein anderes wichtiges Merkmal, das uns eint, ist die Gewaltlosigkeit. Alle Mobilisierungen waren friedlicher Art. Man hat zur Gewaltlosigkeit Sorge getragen, um mehr Menschen einzubinden. So haben wir erreicht, dass die Repression gar einen positiven Einfluss gehabt hat: Sie hat dazu beigetragen, dass sich die Anzahl der Protestierenden vervielfachte. Es war ein Erfolg, dass alle das Unrechtsempfinden teilten: Die Verantwortlichen für die strukturelle Gewalt sind frei, während die normalen, einfachen Menschen unterdrückt werden.
Die Bilder der Gewalt auf dem Tahrir-Platz, die Räumung von Acampadasol am 16. Mai oder die Hunderten Festnahmen auf der Brooklyn-Brücke haben uns nur geholfen, unsere Botschaft weiterzutragen und immer mehr Leute zu den Protesten zu bewegen.
Nun werdet ihr sagen: «Ich habe aber Bilder von Kämpfen in Ägypten gesehen.» Ja, aber das war Gegenwehr. Im ganzen Land gab es im Januar und Februar 2011 mehr als 700 Tote. Einem Freund wurde auf dem Tahrir-Platz gesagt: «Das war eine friedliche Revolution. Wir haben hundert Komissariate niedergebrannt.» Möglicherweise ist das schwer nachzuvollziehen. Doch ich glaube, auch Ägypten war eine friedliche Revolution.
Schliesslich darf nicht vergessen gehen, wie man zum Ort Sorge getragen hat, wo die Proteste stattfanden. Auf dem Tahrir-Platz schützte eine Kette von Demonstranten das Ägyptische Museum vor möglichen Schäden und Plünderungen. Die Puerta del Sol und der Zuccotti-Park wurden in Ordnung gehalten. Man putzte die Plätze und kümmerte sich darum wie um sein Zuhause – was sie ja auch tatsächlich waren.
Informations- und Kommunikationstechnologie
Die Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologien, insbesondere des mobilen Internets und der sozialen Medien, war für unsere Bewegungen von grundlegender Bedeutung. Die aktuelle Entwicklung der Technologie und die Popularisierung des Gebrauchs des Internets ermöglichten den direkten Kontakt zwischen Aktivisten auf der ganzen Welt. Die Protestcamps waren in Echtzeit miteinander verbunden. Eine der ersten Arbeitsgruppen, die sich auf Acampadasol bildeten, war die audiovisuelle, die zur Aufgabe hatte, alles, was geschah, zu dokumentieren und zu verbreiten. Das mobile Internet hat eine Vervielfachung der Augenzeugenberichte bewirkt: die Leute informieren direkt, berichten, was sie sehen, was sie erleben. Das Informationsmonopol wird gebrochen.
Die sozialen Medien wurden aber nicht nur gebraucht, um zu berichten, sondern auch um sich zu organisieren. Und dies war in allen drei Ländern so. Wir haben das Streaming intensiv angewendet, so dass auch Menschen, die nicht abkömmlich waren, an den Protestcamps teilnehmen konnten.
Wir haben alle Mittel zur Verfügung, um die Menschen medial zu erreichen. In den Vereinigten Staaten war man da etwas im Hintertreffen: dort wollte man weiterhin die traditionellen Medien überzeugen, während man in Spanien vollkommen auf sie verzichtete. We are the media. Wir sind die Medien. Und es hat funktioniert. Vergessen wir nicht, dass in Ägypten eines der Massnahmen des Regimes war, das Internet zu kappen! Und in Spanien spricht man neuerdings bereits davon, die sozialen Netzwerke zu kontrollieren. Jüngst hat der Innenminister ein Gesetz angekündigt, «um jene ins Gefängnis zu bringen, die im Internet zu Gewalt aufrufen oder solche Aufrufe weiterverbreiten». Ganz klar ein Versuch, den Gebrauch von sozialen Medien zu kriminalisieren.
Die Informations- und Kommunikationstechnologien wurden je nach Land und Gebräuchen unterschiedlich eingesetzt. In Ägypten kennen viele Leute die Namen zumindest einiger der dreissig Blogger, die den Informationsfluss zum grossen Teil in Gang gebracht und kanalisiert haben. Ein Freund fragte in Ägypten einen dieser Blogger: «Wer ruft hier zu den Protesten auf?» «YouTube», bekam er zur Antwort, «wir laden die Bilder hoch, und die Leute kommen.»
In Spanien und den Vereinigten Staaten war dies etwas anders: Bewegungseigene Kommunikationsmedien wie Twitter- und Facebook-Konten, ein eigenes Radio usw. wurden ins Leben gerufen, über welche die Informationen flossen. Natürlich muss man in diesem Zusammenhang die Rolle der sozialen Medien herausstreichen.
Hier seht ihr ein Diagramm der Kommunikationsströme zu 15-M bei Twitter.
Zunächst sieht man die grossen Kreise von Acampadasol oder Democracia Real Ya, die offiziellen Konten, dann aber auch eine Vielzahl von Einzelpersonen, die daran teilnahmen, indem sie ihre Informationen weiterverbreiteten oder neue erschufen. Diese Personen traten als eigentliche «Brücken zu den 99%» auf und erreichten, dass die Information überall hingelangte. Dies geschah in dieser zum ersten Mal.
Copyleft
Ich sage immer, dass 15-M eine «Copyleft-Rebellion» ist. Und ich glaube, die anderen Bewegungen sind es auch. In der Bewegung 15-M diskutieren und agieren wir nicht nur, sondern wir dokumentieren und veröffentlichen auch alles zu diesen Vorgängen – zu den Erfolgen wie zu den Fehlschlägen. Wir teilen es mit der Gemeinschaft.
Wenn du zum Beispiel eine Versammlung mit zwischen 30 und 3’000 Personen organisieren willst, kannst du in unseren Netzwerken über unsere Erfahrungen lesen. Und wenn du anderes ausprobierst und es gelingt dir, kannst du die Verbesserungsvorschläge dort publizieren.
Solche Vorgänge sind Teil einer freien Kultur, die das Teilen zur Grundlage hat, also die Erlaubnis, die Information zu kopieren und auch zu verändern, das Copyleft eben.
Die Bewegung 15-M beobachtet mit Interesse die Occupy-Bewegungen überall auf der Welt und besonders in den Vereinigten Staaten. Wir wissen, dass von dort her einige Neuerungen kommen könnten. Der Informationsaustausch hat das rein digitale Terrain verlassen und die physische Ebene erreicht. Mindestens zehn Aktivisten der Bewegung 15-M haben an Occupy Wall Street teilgenommen, beratend und indem sie ihre Erfahrungen eingebracht haben. Auch die Leute dort beobachten die Bewegung 15-M, und es entstand ein konstanter Informationsaustausch. Etwas ähnliches geschah in Ägypten und anderen Ländern.
Die Informationen sind nach allen Seiten geflossen, und unsere Revolutionen haben sich durchmischt, indem eine Art musikalische Sprache verwendet wurde.
Diese Aufstände haben sich nicht wie ein Virus von einem einzigen Ursprungsort ausgebreiten und so andere angesteckt. Vielmehr waren es eine Vielzahl von Wellen unterschiedlicher Herkunft und Stärken.
Wie Musik. An verschiedenen Orten begann Musik zu ertönen, und die Wellen Durchdrangen sich mehr und mehr. Mich hat eine Welle erreicht, und als Resonanz begann ich selbst zu schwingen und meine eigenen Wellen auszusenden, meine eigene Musik zu machen … Wir haben diese Musik empfangen und transformiert, und von einem bestimmten Augenblick an haben wir begonnen, zusammen zu musizieren. Wir haben dasselbe Stück gespielt. Das war zum Beispiel die Kundgebung vom vergangenen 15. Oktober, wo gleichzeitig Hunderte von Kundgebungen in Dutzenden Ländern stattfanden. Alle unter demselben Motto: «Gemeinsam für einen globalen Wandel».
Es gibt noch andere gemeinsame Merkmale all dieser Proteste, auf die ich aus Zeitgründen nicht eingehen kann. Doch folgendes möchte ich noch erwähnen: In den Protestcamps wurde ein neues politisches Subjekt geschaffen, oder anders gesagt: Zum ersten Mal wurde das Tabu «Demokratie = Kapitalismus» gebrochen. Ebenso wurde ein Unterschied gemacht zwischen dem Öffentlichen und dem Gemeinschaftlichen.
Hier sind wir also ein Jahr später. Die Revolten gehen weiter. Wir glauben, dass wir die Welt verändern können. Ich glaube, dass wir die Dinge verändern können.
Hört aufmerksam hin und empfangt unsere Wellen. Sendet eure aus. Und womöglich gelingt es uns, zusammen Musik zu machen. – Eine wunderschöne Musik.
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Der Kurzvortrag wurde an der diesjährigen TEDxBuenosAires gehalten, einer Art Ideenbörse, «um Lernprozesse zu impulsieren. um zu inspirieren, zu faszinieren und gehaltvolle Gespräche zu provozieren». Das Originalskript des Vortrags ist auf Zona Crítica erschienen. Übersetzung: Walter B.
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