Protest in Bukarest: Rumänen fühlen sich wie in einer “EU-Kolonie”

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Symbol für Ausbeutung und rigoroser Umweltschädigung: “Rosia Montana” – “Keep our Waters clean! – Foto: © Vlad Ioachimescu

Protest in Bukarest: Rumänen fühlen sich wie in einer “EU-Kolonie”

Ein Interview mit dem rumänischen
Filmhochschul-Assistenten Vlad Ioachimescu
zur Situation in Rumänien

Die Redaktionen der großen internationalen Fernsehsender lenkten während der erheblichen Proteste in Rumänien unser Augenmerk auf die Ukraine. Gebetsmühlenartig wurde und wird wiederholt, für wie erstrebenswert “die” Bürger dort, eine Annäherung an Europa halten und wie wenig Sympathie sie für einer noch engeren Anbindung an Russland hegen. Der als Politiker für unbedeutend eingeschätzte Vitali Klitschko, ein in Deutschland lebender ukrainische Berufsboxer durfte bei ARD und ZDF zur Prime-Time dauer-radebrechen. Aus Rumänien erfuhr man dagegen so gut wie nichts. Doch dort, mitten in der EU rumort es gewaltig. Konflikte zerreissen ein europäisches Land, das uns erheblich näher ist. Es ist höchste Zeit, den Fokus darauf zu richten.

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Landesweite Proteste in Rumänien – Foto: © Doina Badea


Politropolis: Vlad, bitte stellen Sie sich unseren Lesern kurz vor

Vlad: Ich heiße Vlad Ioachimescu, bin 35 Jahre alt und arbeite als Forscher und Universitäts-Assistent an der UNATC „I.L.Caragiale“ Filmhochschule Bukarest.

Politropolis: Was sind sind Hauptthemen des Protests?

Vlad: Die diesjährigen Proteste befassten sich hauptsächlich mit Umweltfragen. Der Funke, der alle anderen Proteste entzündet hat, war freilich der Rosia Montana-Fall. Dort will die Bergwerksgesellschaft Chevron durch Fracking mit hochgiftigem Zyanid Gold abbauen. Die Firma nimmt dafür in Kauf, dass zwei Tallandschaften in Krater verwandelt und rund 2.000 Menschen umgesiedelt werden müssen. Dies überdeckt aktuell all die tieferen Probleme, denen sich Rumänien seit vielen Jahren gegenübersieht: Korruption, Diebstahl, Betrug, Zerstörung der hiesigen Wirtschaft, Menschenrechtsverletzungen, Bruch von Wahlversprechen und überhaupt: eine desaströse Politik gegen die Bürger Rumäniens.

Politropolis: Wie hat sich Ihr Land seit der Ära des Sozialismus verändert?

Vlad: Alle Regierungen der seither vergangenen 24 Jahre haben ihre Wähler an der Nase herumgeführt und betrogen. Deshalb verwundert es nicht, dass die Initiative sich gegen die gesamte politische Klasse richtet, den Präsidenten eingeschlossen. Rumänien, obwohl seit 2007 EU-Mitglied, ist 24 Jahre nach der Öffnung für kapitalistische Werte zu einem Land verkommen, das ausgebeutet wird wie eine Kolonie. Äußerlich ein freies Land, ist Rumänien heute tief verschuldet und liegt nahezu in jeder Hinsicht am Boden; ein Land, das sich von seinen Politikern nicht mehr vertreten sieht, da sie es vorziehen, die Interessen von Privatunternehmen gegenüber den eigenen Bürgern zu schützen, und die nicht davor zurückschrecken, die Bürgerrechte zu verletzen. Es tut schon weh, wahrzunehmen, wie die Zahl derer, die sich die Zeiten des Kommunismus zurückwünschen, täglich wächst.

Politropolis: Wie stellt sich die Situation für die arbeitenden Menschen heute dar?

Vlad: Die von der Europäischen Union eingeforderte Sparpolitik, die unsoziale Gesetzgebung, die Bestechlichkeit der Politiker, das Missmanagement mit den europäischen Geldern ebenso wie die unverantwortlichen Anleihen, die mit dem Internationalen Währungsfonds vereinbart wurden, führten in den letzten Jahren zu einem rapiden Anstieg der Arbeitslosenzahl und zu einer beträchtlichen Abwanderung von Arbeitsplätzen; einer Abwanderung, die vom rumänischen Präsidenten in unverantwortlicher Weise ermutigt wurde.

Politropolis: Wie ist die Lage für junge Menschen hinsichtlich Arbeitslosigkeit und Zukunftsperspektiven?

Vlad: Das Gesundheitssystem befindet sich in einem ebenso miserablen Zustand wie Bildung und Forschung, und es gibt keinerlei Perspektiven oder Programme, die auf ihre Fortentwicklung zielen. Das hat auch die massive Abwanderung der Jugend zur Folge. Diese Abwanderung mindert die Hoffnung auf eine Erneuerung unseres Landes gewaltig.

Politropolis: Wie beurteilen Sie die Aussichten für Rumänien, wenn sich nichts ändert?

Vlad: Wenn sich nichts ändert, sehe ich generell keine Perspektive für Rumänien, weder innerhalb noch außerhalb der Europäischen Union. Für mich als Lehrer, aber in erster Linie als Vater, ist diese Protestbewegung – ebenso wie für die jungen Menschen auf der Straße – so etwas wie der letzte Zug in eine bessere Zukunft; ein Zug, den zu verpassen wir uns nicht leisten können.

Politropolis: In welchen größeren Städten gibt es Demonstrationen, und wie viele Leute nehmen teil?

Vlad: Am 1. September begannen friedliche Proteste in den meisten rumänischen Städten, ob klein oder groß, in Europa ebenso wie in den entferntesten Teilen der Welt. Zehntausende Menschen nahmen an den Demonstrationen im Lande teil. Trotz der natürlichen Dynamik jedes friedlichen Protests und trotz des Mangels an greifbaren Aussichten auf einen Sieg, die zu einem verständlichen Rückgang der Demonstrantenzahlen führten, blieben Tausende mit umso größerer Entschlossenheit weiter auf der Straße. In bestimmten Schlüsselmomenten reagierten die Menschen auf unsere Aufrufe sofort und gingen wieder demonstrieren. Die Unterdrückungsaktionen der Behörden gegen eine kleine ländliche Gemeinde, die sich gegen „Fracking“ in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wehrt, brachten die Bürger in Rage und wieder auf die Straße.

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Ist Rumänien auf dem Weg zum Polizeistaat? Foto: © Doina Badea

Politropolis: Wie reagiert die Polizei?

Vlad: Nachdem die Antikrawall-Polizei die friedliebenden Demonstranten drei Monate lang hatte gewähren lassen und jeden Zwischenfall vermieden hatte, änderte sich ihre Einstellung gegenüber den friedlichen Bürgern dramatisch im Gefolge eines illegalen Befehls von Premierminister Ponta. Die Folge waren zahllose Fälle von Missbrauch polizeilicher Gewalt: Alte Männer, Kinder und Schwangere wurden geschlagen, es erfolgten ungerechtfertigte Verhaftungen bis hin zu Folterungen in den Fahrzeugen zum Transport der Gefangenen in Richtung Polizeistation.
Obwohl die Fernsehsender über keinen dieser Vorfälle berichteten und die Regierung nichts zugibt, wurde die Gemeinde Pungesti dadurch in eine Militärkolonie verwandelt – mitten in der EU! Die rumänische Antikrawall-Polizei, die von der öffentlichen Hand finanziert wird, lässt sich hier als Sicherheitsdienst der Firma Chevron instrumentalisieren. Die Regierung kriminalisiert die Dorfbewohner, die den Chevron-Zaun niedergerissen haben, um gegen die Polizei vorzugehen, aber sie sagt nichts gegen die Gewalt und den Terror, den eben diese Polizei monatelang über die Bewohner gebracht hat! Sie bezeichnet das Niederreißen des Zauns als illegal und verschweigt dabei, dass dieser Zaun illegal errichtet worden ist – auf einem Areal, das zuvor ungesetzlich erworben wurde.

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Foto: © Doina Badea

Rasche Schritte der derzeitigen Regierung – in die viele Menschen große Hoffnungen gesetzt hatten – verwandeln Rumänien in einen Polizeistaat. Kein Wunder, dass die Bevölkerung erzürnt ist, missbraucht die Regierung die Antikrawall-Einheiten der Polizei doch genauso brutal wie das alte, kommunistische Regime. Wir hoffen darauf, dass all diese Fakten durch die internationale Presse gehen, und wir erbitten dringend die Reaktion und die Unterstützung aller internationalen Botschaften, indem sie dieses Vorgehen verurteilen.

Politropolis: Stehen Sie in Kontakt mit Protestaktionen in anderen europäischen Ländern?

Vlad: Die Protestgemeinde auf Facebook steht in ständiger Verbindung mit all den anderen Europäischen Städten draußen, wo ebenfalls Proteste stattfinden.

Politropolis: Halten Sie das derzeitige politische System für reformierbar?

Vlad: Ja, aber nur unter dem Druck der Straße. Samstag, der 21. Dezember, als wir der rumänischen Revolution von 1989 gedachten, war ein entscheidender Tag. Demonstranten aus dem ganzen Land versammelten sich auf der Piata Universitatii, dem Platz der Universität in Bukarest. Diesmal richtet sich unser Kampf nicht nur auf die Erhaltung unserer Umwelt, auf unser nationales Erbe und die Einhaltung der Eigentumsrechte, sondern generell gegen jene, die danach trachten, uns die Freiheit zu rauben, die wir im Dezember 1989 mit unserem Blut erkauft haben. Wir haben eine Liste mit unverhandelbaren Ansprüchen erstellt, auf deren Umsetzung wir entschlossen hinarbeiten.

Politropolis: Wie berichten die rumänischen Medien?

Vlad: Der Großteil der rumänischen Presse beeilt sich täglich, die Willfährigkeit gegenüber der Regierung unter Beweis zu stellen, oder erweist sich als Sklave der Marketingfeldzüge von Unternehmen, die sich die Ausbeutung der rumänischen Bodenschätze um jeden Preis zum Ziel gesetzt haben. Wenn über unsere Proteste berichtet wurde, dann in verzerrter Weise zugunsten dieser Firmen. Die wenigen Fernsehdebatten verliefen stets ungerecht, waren sie doch mit denselben Unternehmen abgestimmt.
Da sie also fair berichtender offizieller Medien entbehren mussten, verlegten sich die Protestierenden auf die alternative Kommunikation durch das Internet. Gleichzeitig tauchten zahlreiche unabhängige Journalisten in den Massenmedien auf, die innerhalb nur weniger Monate zu großer Bekanntheit und Wertschätzung gelangten.

Politropolis: Gibt es bei Ihnen auch Aktivitäten radikaler oder faschistischer Parteien, wie etwa in Griechenland?

Vlad: Nein, die gibt es nicht, oder sie sind zumindest nicht von Bedeutung. Einzelne oder kleine extremistische Gruppen sind bei den Demonstrationen zwar aufgetaucht, sie wurden aber von den Demonstranten mit großer Selbstverständlichkeit abgewiesen, und die Zahl entsprechender Vorfälle ist außerordentlich klein.

Vlad, ganz herzlichen Dank für Ihre Einschätzung der Lage und dafür, dass Sie sich Zeit genommen haben, unsere Fragen zu beantworten.

Das Interview führte Hans-Udo Sattler, die Übersetzung
übernahm Hanno Herzler

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Quellen – weiterführende Links

Fotos mit freundlicher Erlaubnis © Doina Badea
und © Vlad Ioachimescu.
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