Propaganda – Iss mehr Gemüse!

Die Gruppe Acrobat aus Australien (c) Karen Donnelly


Die Bühne sieht aus wie ein unaufgeräumter Lagerplatz von Menschen, die sich auf Durchreise befinden. Einzig die große Stange, verzurrt mit Seilen nach mehreren Seiten hin, die mittig hoch nach oben ragt, kündet leise von Künftigem. Zwei Menschen betreten die Bühne. In überlangen, fast bis unter die Brust reichenden grauen Strumpfhosen und braunen Hemden beginnen sie ihr Slapstickspiel des starken August mit seinem Gehilfen. X mal versucht dieser auf den Muskelmann zu klettern, mit ihm akrobatische Kunststücke vorzuführen, um doch jedes Mal wieder – autsch – gemeinsam unsanft am Boden zu landen. Große Akrobatenkunst, die die beiden vermeintlichen Männer hier persiflierend mit einem Augenzwinkern zeigen, ist das dennoch.

 

Umso verblüffter ist man, als sich wenig später der Gehilfe als zarte Frau entpuppt, die als Wassernixe in einer giftgrünen Elastikhose steckt. Immer und immer wieder, ohne je den Boden zu berühren, erklettert sie das obere Ende des Seiles, um sich dann wieder fallen zu lassen, abzuseilen oder ganz halsbrecherisch aus dem um sie geschlungenen Seil in Sekunden Richtung Boden auszuwickeln. Das australische Zirkusduo „Acrobat“, Jo-Ann Lancester, die mit ihrem Mann Simon Yates die Vorstellung „Propaganda“ bestreitet, scheint Muskeln zu besitzen, die keine Kraftermüdung kennen. Was sie am Seil zeigt, ungezählte Arten unorthodox nach oben und wieder nach unten zu gelangen, exerziert Simon Yates an der Stange. Wie er kopfüber – also Kopf nach unten – mithilfe der Kraft seiner Arme und Hände sich einige Meter nach oben schiebt, nein, eigentlich nach oben hüpft – oder kurz darauf wie ein Tic-Tac-Männchen, das an kleinem, mechanischem Kinderspielzeug hin- und her wackelnd ein Holzstäbchen abwärts rutscht, dies an der großen Stange macht – raubt einem schier den Atem. Er zeigt Bewegungsmuster, von denen man sich gar keine Vorstellung macht, wie lange man braucht, um sie zu beherrschen und von denen man gar nicht wusste, dass sie überhaupt existieren.

Dass es auch möglich ist, an einem quer aber nicht straff gespannten Seil wie in einem Bett zu schlafen und sich nach dem Erwachen darauf umzukleiden und arbeitsfein zu machen, auch das zeigt Yates so unprätentiös, als ob es eben mal eine kleine Randerzählung wäre. Aber neben der noch an den Schluss gesetzten Fahrradakrobatik in weißen Feinrippunterhosen, die, wie schon zu Beginn der Vorstellung, nostalgische Gefühle hervorzaubert, gibt es noch allerhand theatralische Bezüge zum Titel des Stückes. Propaganda, so erfährt man im Laufe des Abends, bedeutet nicht nur von einem Redner am Podium mit aufrüttelnden Parolen bebrüllt zu werden: Herrlich, wie Yates hier seinen Mund wie eine Marionette öffnet und schließt und aus dem Lautsprecher dahinter die Kampfansagen ertönen. Propaganda bedeutet nicht nur, in der logischen Konsequenz des Turbokapitalismus Geldscheine und Geldstücke als essbaren Salat vorgesetzt zu bekommen, als Propaganda werden auch jene subtilen Methoden vorgeführt, die zum guten, wahren, schönen und gesunden Leben in der Kindererziehung aufrufen.

Als Engelchen kostümiert schwebt Grover,der Akrobatensohn, auf einer Kinderschaukel in die Lüfte, um ein Plakat nach dem anderen dem Publikum zum Lesen zu präsentieren: Iss mehr Gemüse, sei lieb oder fahre mit dem Fahrrad, waren darauf zu lesen, womit diesem kräfteraubenden Schauspiel am Ende noch eine große Portion Erkenntnis hinzugefügt wurde. Propaganda beginnt im Kindesalter – wer hätte das gedacht! Dass auf dem einfachen, DIN-A4 gefalteten Programmheft erklärt wird, dass Grover viel Gemüse isst, aber bei der roten Bete noch Fortschritte machen kann, zeigt, auf welch offener, menschlicher und augenzwinkernder Kommunikationsebene die „Acrobats“ mit ihrem Publikum verkehren. Eine Vorstellung im Le-Maillon in Straßburg, die nicht nur höchste Körperbeherrschung vorführte, das Schwierigste vom Schwierigen so verpackte, als sei es das Leichteste vom Leichten, sondern ein Abend, der auch durch die familiäre Inszenierung und vor allem den geschärften Blick auf das menschliche Maß – auch in der Kunst – sehr berührte.

In Straßburg erfolgte der Auftakt zur Europatournee. Noch zu sehen ist Propaganda in London, Madrid, Toulouse, Karlsruhe, Saint Etienne, Grugliasco, Paris, Croningen und Norsborg.

 


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