Wie der Brexit, also das Referendum für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, mit dem „Islamischen Staat“ und seinem Terrorismus via (das Thema) Flüchtlingskrise zusammenhängt, hat Asiem El Difraoui in der Welt beschrieben. Ein anderer Faktor für das Referendum-Ergebnis im Sinne einer Denkzettelwählerei wird daneben diskutiert – und schließt an die Abstimmungserfolge der Alternative für Deutschland (AfD) oder den Fall Donald Trump, der im US-Präsidentschaftswahlkampf trotz oder wegen seines Populismus‘ erschreckend weit gekommen ist, an. Auf der Titelseite macht Die Zeit in ihrer vergangenen Ausgabe (Nr. 28/2016) mit der Überschrift „Was tun, wenn die Falschen gewinnen?“ auf, und Giovanni di Lorenziomahnt unter der Überschrift „Wie viel Volk darf’s denn sein?“ vor den eingefahrenen Mustern der Erklärung und Ausgrenzung.
„Wie holt man jene Bürger zurück, die sich partout nicht überzeugen lassen und andere Prioritäten haben? Was tun, wenn die Falschen gewinnen? Die Frage drängt sich auf, aber sie kann auch eine Falle sein. Dann nämlich, wenn sie eine Spaltung akzentuiert, statt sie zu überwinden. Wenn also mit den Richtigen die aufgeklärten und politisch interessierten, weltläufig und liberal gesinnten Menschen und mit den Falschen die angstgetriebenen, politisch unterbelichteten, ressentimentgeladenen Leute gemeint sind, wahlweise die Zukurzgekommenen, die Alten, die weißen Männer oder die Landpomeranzen, denen man am besten keine Ja/Nein-Fragen in Form eines Referendums stellen sollte.“
Die Erklärungs- und Beruhigungsmuster sind so augenfällig wie allgemeinpolitisch hochbrisant: Wer gegen EU ist und für Grenzzäune, allgemein xeno- wie speziell homo- und islamophob ist, erscheint unbelehrbar, unterentwickelt oder krank (was der Begriff der „Phobie“ impliziert), damit in gewisser Weise vielleicht nicht böse, aber unzurechnungsfähig. Welche Sprengkraft für das Prinzip Demokratie darin steckt, lässt sich u.a. daran ablesen, dass (und wie) über ein erneutes Referendum im Vereinigten Königreich spekuliert wird (unterstützt von Berichten über UK-Denkzettelwähler, die jetzt partout erschrocken seien, dass ihre Stimme zählt, obwohl sie ja eigentlich gar nichts gegen die EU hätten). Wählen, bis das Ergebnis vernünftig ist (ein freilich in EU-Belangen nicht präzendenzloses Vorgehen). Auch Jan Fleischhauer in seiner Spiegel-Online-Kolumne votiert in diesem Sinne für die Rückkehr zum Dreiklassenwahlrecht.
Dass nun in den Hinterköpfen der StimmzettelkreuzerInnen auf der Insel vielleicht weniger die realen wirtschaftlichen Vor- und Nachteile eines EU-Austritts präsent waren und vielmehr a) die deutsche Flüchtlingspolitik samt Folgen und Bildern und b) die gedankliche Verknüpfung von offenen Grenzen und freizügigem dschihadistischem Terrorismus in Belgien oder Frankreich bzw. der Islamisierung der „westliche“ Welt mag nachvollziehbar wie dumpf sein. Auch, dass – Stichwort Propaganda – das Bild des aktuell attraktivsten Fremden- und Schurkenbildes des „Islamischen Staats“ als zeitgenössische Quintessenz des „Evil Arabs“ und „Evil Muslims“ durch dessen (v.a. Online-)PR hier eine instrumentable Rolle spielt, durchaus zusammengeht mit politikverdrossenen Websites, Blogs und Tweets, die verschwörungstheoretisch aufschlussreich vom Konnex der Merkel-Herrschaft mit der „System-Presse“ schwadronieren, sei lediglich erwähnt.
Was aber hat Propaganda mit dieser komplexen Lage heute darüber hinaus zu tun? Oder anders und genauer gesagt: Wie kann der Begriff der Propaganda die hier skizzierten Problem- und Konfliktphänomene in ihrem Zusammenhang auf einen Nenner bringen?
Dafür lohnt der Blick in einen Klassiker des Metiers: Edward Bernaiys „Propaganda“ von 1928 [1]. Bernays war nicht nur Neffe Freuds und Begründer der modernen Öffentlichkeitsarbeit (bzw. „Vater“ des Public-Relations-Begriffs und der Definition von dessen beruflicher Installation): Bernays wie u.a. dem Pionier der Kommunikationswissenschaft Harold D. Lasswell [2] verdanken wir nach dem Ersten Weltkrieg (als dem wegbereitenden Krieg für die Bedeutungserkenntnis hinsichtlich der Massenbeeinflussung) gerade heute hochaktuelle Einsichten in Wohl, Wehe und Prinzipien von Propaganda. Auch, wenn der Terminus nach Hitler, Stalin, Mao Tse-tung et al. nachhaltig desavouiert ist. Was Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht der Fall war.
Damals, Ende der 1920er, als beim Sprechen über Propaganda Politik und Wirtschaft zusammengedacht wurden (das Werben für Idee wie für Marken in der noch neueren Zeit der Massenproduktion), galt Bernays inklusive dem, was später „Pseudoevents“ heißen würde, Propaganda als ein Mittel, dass nicht per se einfach undemokratisch ist. Vielmehr schreibt Bernays skeptisch gegen die Ideale der Aufklärung an, die für ihn angesichts seiner modernen Ära als eine Fiktion erschien. Der moderne (und gar: der postmoderne) Mensch, so lässt sich Bernays Argumentation heute fassen, wäre bzw. sei schlicht überfordert von den Angeboten an den Meinungen und Sichtweisen, mit denen er sich für eine vernünftige Meinungsbildung und Entscheidungsfindung auseinanderzusetzen schlichtweg nicht die Zeit oder sonstige Ressourcen hat. Bei aller Macht, die wir Königen und Kaiser abgenommen hätten, bei aller Alphabetisierung des „einfachen Mannes“:
„Once he could read and write he would have a mind fit to rule. So ran the democratic doctrine. But instead of a mind, universal literacy has given him rubber stamps, rubber stamps inked with advertising slogans, with editorials, with published scientific data, with the trivialities of the tabloids and the platitudes of history, but quiet innocent of original thought. Each man’s rubber stamps are the duplicates of millions of others, so that when those millions are exposed to the same stimuli, all receive identical imprints“ (Bernays 1928: 20).
Das mag pessimistisch und gestrig klingen. Aber wir müssen, was die schnelle Beurteilung anbelangt, nur die „Gummistempel“ durch Facebook-Likes (-Smilys, -Frowneys etc.) oder Online-Petitionen als Form bequeme Lean-Back-Partizipation ersetzen, um zu sehen, wie zumindest zeitgemäß Bernays heute in seiner Diagnose wieder ist.
Das Narrativ von der Info-Überforderung und mithin manipulativen Emotionalisierung als Gegenentwurf zu der der hehren Demokratisierungsfunktionen des Internets mit seinem Fakten- und Meinungsfreiheiten ist mittlerweile ein alter Hut. Und ebenso wie abschreckende Schandtaten von Flüchtlingen, ob real oder erfunden, bei Facebook kursieren, zirkulieren in Sozialen Netzwerken herzerwärmende Geschichten, etwa die vom mittel- und selbstlosen Flüchtling, der gefundene tausende Euro brav bei der Polizei abliefert. Fadenscheinig ist die eine wie die andere Story in ihrer shareabilty.
Traurig hier wie da ist der Umstand, dass Propaganda wieder in harter wie weicher Form, im Guten wie im Schlechten zusammengedacht und zusammengebracht wird mit etwas, das ähnlich bereits Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts beargwöhnt wurde: die „Masse“. Eben hierin liegt das entdemokratisierende Meta-Problem von Propaganda – weniger deren Anwendung, denn als Schreckgespenst. Schnell wird so zwischen der realen Gefahr des „Islamischen Staats“ und dem Wirkungsrisiko von dessen Propaganda-Selbstbild die Grenze verwischt. Auch der Vergleichsschritt hin zu den populistischen Versprechen von Nigel Farage und Co. hinsichtlich der 350 Mio. Pfund, die beim EU-Austritt dem britischen Gesundheitssystem zugutekämen, ist ein kleiner. Hier wir da grüßt der selbsterhöhende Third-Person-Effekt als Propagandagefahr höherer Ordnung: All die vielen anderen Leute, die fallen darauf herein. Solch Denken und Argumentieren entmündigt nicht nur Bürger (was schlimm genug wäre): Es entlässt sie Brexit-Befürworter wie radikalislamistische Syrien-Ausreisende (und -Rückkehrer, denen ein „falsches“ Bild von Kalifat und Glaubenskrieg vorgegaukelt wurde oder worden sei) aus ihrer Verantwortung, ohne jedoch die Aufklärung per se nicht zu denken ist.
Wenn wir Propaganda diese fragwürdige schizophrene Wirkmacht (der Legitimation wie der Deligitimation „des Volkes“) zusprechen, dann müssen wir aber ebenso konsequent sein, was ihre Bewertung und ihren Einsatz anbelangt, sprich: Propaganda als Faktum und mehr noch: als Werkzeug betrachten, das es zum Besten einzusetzen gilt. Unter anderer Bezeichnung natürlich und im Namen der Aufklärung (hier der alltagspragmatischen, erzieherischen). Das wäre zumindest konsequent, wenn es natürlich die Abwertung und Ausgrenzung noch weiter befördert.
Damit sind wir wieder bei Edward Bernays und anderen Autoren, die die Moralität von Propaganda nach den Zielen bemaß (im Gegensatz zu v.a. Jacques Elluls spätere, quasi diskursethischer, deontologisch begründeter Ablehnung). Die Logik hinter dem „realistischen“ Verständnis von Propaganda und ihrem Gebrauch ist durchaus bedenkenswert, gerade von einem Neutralitäts- und Objektivitätsstandpunkt aus: Bin ich überzeugt, dass meine Sichtweise und die damit einhergehenden Machteinsätze zur Formung des gesellschaftlichen und politischen Lebens die richtigen sind, ist es nur fair, dafür – also im Namen eine höheren Wohls – jedwede Überzeugungsmittel jenseits von Gewalt für deren Durchsetzung anzuwenden. Bertrand Russell [3], Mitbegründer der Analytischen Philosophie, sah das Übel der Propaganda denn auch lediglich in zwei von ihr ablösbaren Faktoren: Erstens dem Appell ans Irrationale, also Gefühle und Affekt. Russell selbst erachtete diesen Aspekt allerdings als weniger relevant:
„For my part, I am inclined to think that too much fuss is sometimes made about the fact that propaganda appeals to emotion rather than reason. The line between emotion and reason is not so sharp as some people think. Moreover, a clever man could frame a sufficiently rational argument in favour of any position which has any chance of being adopted. There are always good arguments on both sides of any real issue“ (Russell 1922: 39).
Tatsächlich lassen sich praktisch keine Fälle finden, in denen nicht im Guten wie im Schlechten moralische Emotionen argumentativ berührt würde, um für etwas als „richtig“ oder „fair“ werben. Seien die Maßstäbe dazu noch so historisch und geschehe es nur der überzeugungskräftigenden Nachvollziehbarkeit wegen.
Der zweite Punkt Russells ist gewichtiger und hebt auf die verfügbaren Ressourcen ab. Ganz konkret können wir darunter heute finanziellen Mittel verstehen, mit denen etwa Sendezeit gekauft wird oder Aufmerksamkeit im World Wide Web generiert und gesteuert wird (qua Personalkosten für Social-Media-Kommentatoren oder die Miete von Twitter-Bots etwa). Russell: „It is obvious that the arguments in favour of the richer party would become more widely known than those in favour of the poorer part, and therefore the richer party would win“ (ebd.: 40). Dies hebt freilich nicht auf die Legitimität oder den ethischen Status von Propaganda an sich ab, sondern nur auf die Asymmetrische des Einsatzes. Möge jeder propagieren und agitieren, nur gleichberechtigt.
Das ist natürlich höchst unbequem und sicher lässt sich Propaganda von etwa Bildung und erzieherischer oder informativer Aufklärung (z.B. der Berichterstattung) dadurch unterscheiden, dass ersteres mit Lüge, Halbwahrheiten und unstatthaften Emotionalisierungen operiert. Nach bestem Wissen und Gewissen können aber auch Ideologen und Indoktrinateure ihre Botschaften verbreiten. Und spätestens wenn es um grundlegende Werte, Weltanschauungen und Menschenbilder geht, gerät man irgendwann an den Punkt, an dem sich mit Fundamentalisten nicht mehr weiterdiskutieren lässt (ohne den Verstand zu verlieren). Man muss sich tatsächlich nicht Propaganda erwehren, indem man Gegenpropaganda betreibt. Dafür sollte man sich allerdings nicht einem breiten politischen Propaganda-Opfer-Diskurs fahrlässig hingeben. Nicht zuletzt weil das brisanteste Propaganda-Verständnis schon allzu verbreitet ist im Alltag: Propaganda als die Meinungen und Meinungsäußerungen, die der eigenen Auffassung widersprechen.
[1] Bernays, Edward (1928): Propaganda. New York: Horace Liveright.
[2] Lasswell, Harold Dwight (1938 [1927]): Propaganda Technique in the World War. New York: Peter Smith.
[3] Russell, Bertrand (1922): Free Thought and Official Propaganda. C.K. Ogden Conway Memorial Lecture, South Place Institute, 24. März 1922, London: Watts & Co.Online unter: http://www.gutenberg.org/ebooks/44932