Präimplantationsdiagnostik: Unbehagen und Goldgräberstimmung

Von Walter

Die Schweizer Stimmberechtigten entscheiden am 14. Juni 2015 über die Zukunft der Präimplantationsdiagnostik (PID). Die Materie ist komplex, der Entscheid setzt naturwissenschaftlich-medizinische Kenntnisse voraus und hat weitreichende Folgen für die Zukunft der Fortpflanzungsmedizin – und für den künftigen Umgang der Gesellschaft mit unperfektem, versehrtem Leben. Die Schweizer Stimmbevölkerung spielt am 14. Juni gewissermassen Ethikkomission. – Eine Auslegeordnung aus Sicht eines Behinderten und die Suche nach einer angemessenen Antwort.

Zunächst geht es um einen Satz in der Bundesverfassung, genauer um den Artikel 119 BV. Dort sind die Bedingungen festgelegt, unter denen eine menschliche Eizelle ausserhalb des Körpers der Frau – in vitro, im Reagenzglas – befruchtet und somit ein Embryo erzeugt werden darf. Bis jetzt durften nur so viele Embryonen entwickelt werden, wie unmittelbar eingepflanzt werden können. Neu sollen so viele entwickelt werden können, «wie es die vorgesehene Behandlung erfordert». Erst diese Umformulierung des Artikels 119 BV ermöglicht überhaupt die PID – weil sie ja nur Sinn gibt, wenn auch Embryonen vor der Einpflanzung ausgeschieden werden können, also mehr Embryonen erzeugt als dann schliesslich eingepflanzt werden. PID war bisher schon aufgrund dieses Verfassungsartikels ausgeschlossen.

Verfassungsstufe und Gesetzesebene

Es wird am 14. Juni also darüber – und nur darüber – abgestimmt, ob die PID grundsätzlich und auf Verfassungsebene ermöglicht werden soll oder nicht. Unter welchen Bedingungen die Präimplantationsdiagnostik – nach einem allfälligen Ja zur Verfassungsänderung – durchgeführt werden darf, regelt das ebenfalls überarbeitete Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG), über das allerdings erst in einem nächsten Schritt abgestimmt werden kann, vorausgesetzt das Referendum dagegen kommt zustande.

Und das Referendum ist bereits angekündet. Denn das FMedG öffnet die Tür Richtung PID deutlich weiter, als vom Bundesrat ursprünglich vorgeschlagen. Neben der Untersuchung der Embryonen auf schwerwiegende vererbbare Krankheiten (Vorschlag Bundesrat) – um es Eltern mit der Anlage zu solchen Krankheiten zu ermöglichen, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen – sieht das überarbeitete Gesetz vor, dass die Embryonen auch auf Chromosomenanomalien geprüft werden können. Damit können gewisse Krankheiten und Behinderungen, zum Beispiel Trisomie 21, das Down-Syndrom, erkannt und verhindert werden. Diese Erweiterung der Diagnosemöglichkeiten hat das Parlament ins FMedG eingefügt.

Hier nun setzen die Bedenken vieler Behindertenorganisationen ein. Gewisse Behinderungsarten könnten in Zukunft als vermeidbar gelten, weil sie noch vor der Einsetzung des Embryos in den Uterus der Mutter erkannt werden können. Und in der Folge könnte Druck ausgeübt werden, solche Kinder – die ja heute schon im Mutterbauch mittels Pränataldiagnostik erkannt werden können – nicht zur Welt kommen zu lassen, zum Beispiel indem bei ihnen – ganz im Sinne des Verursacherprinzips – der Krankenversicherungsschutz eingeschränkt wird. Spätestens dann wären wir bei der Eugenik angelangt, dem Bestreben, «den Anteil negativ bewerteter Erbanlagen zu verringern» (Wikipedia).

Behindertenorganisationen uneinig

Auch die gesellschaftliche Akzeptanz von Behinderung im Allgemeinen – und der Behinderten – sehen die entsprechenden Verbände bei einer Annahme der PID in Frage gestellt. Was kommt einem Kind oder Erwachsenen etwa mit Down-Syndrom gesellschaftlich entgegen, wenn man weiss, dass diese Behinderung im Grunde vermeidbar ist, das heisst bei In-vitro-Fertilisation Embryonen mit dieser Chromosomenveränderung frühzeitig aussortiert und verworfen werden können? (Auch bei der Pränataldiagnostik im Mutterleib, die immer zuverlässiger und unproblematischer wird, können Behinderungen wie das Down-Syndrom frühzeitig erkannt werden. Der Schritt zur Abtreibung ist aber deutlich schwerwiegender als die Aussortierung im Reagenzglas.)

Es ist also mehr als Unbehagen, das von dieser Seite zur PID geäussert wird. Trotzdem sind sich selbst die Behindertenorganisationen nicht einig. Manche sagen klar Nein zur Verfassungsänderung – unter anderem mit dem Argument, der PID müsse ein möglichst enger Rahmen auf Verfassungsstufe gesetzt werden. Ansonsten öffne man eine Büchse der Pandora, und je nach politischer und gesellschaftlicher Grosswetterlage werde der Rahmen scheibchenweise durch relativ einfache Gesetzesänderungen – im Gegensatz zur aufwändigeren Verfassungsänderung – erweitert.

Andere Behindertenorganisationen sagen – wohl mit einigen Vorbehalten – Ja zur Verfassungsänderung, aber Nein zum Gesetz. Sie würden sich also nach der grundsätzlichen Annahme der PID für ein Referendum gegen das Fortpflanzungsmedizingesetz stark machen. Um im Bild zu bleiben: Die Büchse der Pandora wird im Vertrauen darauf geöffnet, dass man im FMedG ein geeignetes Instrument zu Zähmung der so gerufenen Geister hat.

Das Leiden kinderloser Paare als Wirtschaftsfaktor

Die Befürworter der PID stellen das Leiden kinderloser Paare in den Mittelpunkt. Warum sollen angesichts dieser Leiden die Möglichkeiten der modernen Medizin ungenutzt bleiben? Um diesem Argument Gewicht zu verleihen, wird allerdings dieses Leiden meines Erachtens etwas sehr aufgebauscht. Ist es denn in der heutigen Zeit so wichtig, auf Teufel komm raus eigene Kinder zu zeugen, um den Stammbaum fortzuführen? Wäre für solche Paare nicht eine Adoption denkbar, statt mit der medizinischen Brechstange eigene Kinder im biologistischen Sinne zu ermöglichen?

Der wirtschaftliche Faktor wird in der Diskussion gemeinhin unterschätzt. Es besteht seitens der spezialisierten Kliniken ein handfestes Interesse, den Personenkreis, der für eine PID in Frage kommt, möglichst weit zu fassen. Nicht ausgeschlossen, dass ihr Lobbying im Parlament entscheidend war. Der restriktivere Vorschlag des Bundesrates hätte fünfzig bis hundert Paaren pro Jahr ermöglicht[1], trotz ihrer erblichen Belastung dank PID ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Der durch das Parlament erweiterte Rahmen entspricht dem Bedürfnis von schätzungsweise 6’000 Paaren pro Jahr[2]. Bei durchschnittlichen Kosten von 15’000 Franken pro Behandlungszyklus (5’000.– für die In-vitro-Fertilisation [IVF] und 10’000.– für die PID) kann man selber ausrechnen, wie handfest die Interessen der IVF-Kliniken sind. Kein Wunder, kommt da Goldgräberstimmung auf!

Fazit

Mein Unbehagen gegenüber der Logik der Selektion, die bereits im Reagenzglas beginnen soll, hat sich im Lauf der Auseinandersetzung mit dem Thema vertieft, so dass ich ein Nein zur Präimplantationsdiagnostik einlegen werde. Die Argumente der PID-Befürworter, insbesondere die starke Gewichtung des Leids kinderloser Paare, haben mich nicht überzeugt. Sie bekommen angesichts der wirtschaftlichen Interessen der IVF-Kliniken gar einen etwas schalen Geschmack. Und die Aussicht, dass der Rahmen, innerhalb dessen die PID erlaubt sein soll, mit der Zeit tendenziell erweitert werden wird, hat etwas Erschreckendes. Dass die PID wohl kaum aufzuhalten ist, da sie ganz und gar dem Trend der Zeit entspricht, nehme ich eher trotzig zur Kenntnis, als dass ich mich durch einen falsch verstandenen Pragmatismus zu einem halbherzigen Ja verleiten lasse.


Anmerkungen:

[1] Botschaft des Bundesrats vom 7.6.2013 zur Änderung der Verfassungsbestimmung zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich (Art. 119 BV) sowie des Fortpflanzungsmedizingesetzes (S. 5855).

[2] Die Zahl wurde in den Debatten im Parlament genannt. Siehe Statistik über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung des BFS 2013: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/14/02/03/key/02.html


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